Michael Frenzel (Jg. 1956): Und dann zurück in den Verwahrraum

Von Michael Frenzel

Schon lange war meiner Frau und mir klar, dass ich keinerlei Dienst in einer Armee leisten könne. Mein Gewissen, meine Verantwortung anderen Menschen gegenüber, machten es mir unmöglich, mich an der "organisierten Ausbildung zum Töten" zu beteiligen. Dies alles wussten wir und doch waren wir erschrocken, als ich im Oktober des Jahres, in dem ich 26 Jahre geworden war, eine Einberufung zu den Baueinheiten der Nationalen Volksarmee erhielt.

Noch einmal prüften wir alle Argumente. Aber es blieb dabei: Eine andere Entscheidung als die Totalverweigerung kam für mich nicht in Frage, und so galt es, Vorbereitungen zu treffen:

- Die Dinge des täglichen Lebens in unserer Familie - unser zweites Kind war wenige Wochen zuvor geboren - würden nun von meiner Frau allein bewältigt werden müssen.


- In meinem Beruf mussten für die Zeit meiner Abwesenheit Vertretungen gefunden werden.


- Ich ging noch einmal Freunde und Eltern besuchen, wobei es immer wieder zu langen Gesprächen über den Sinn unserer Entscheidung und über die Frage kam, was Haft für mich bedeute.


- Aber auch Gespräche mit dem Anwalt waren noch erforderlich, Absprachen über den anstehenden Prozess oder die Situation in der Haftanstalt. 


Woran musste noch gedacht, was noch erledigt werden? Welche Absprachen waren noch erforderlich, welche Helfer noch nötig? Die Nächte waren kurz und wir ständig aktiv. Hatten wir wirklich an alles gedacht? Und dann noch einmal: Was wäre, wenn ...?

Unendlich viele Fragen, und dann war er da, der 2. November 1982, der Tag des Abschieds. Die Gefühle, die mich bewegten, sind kaum zu beschreiben. Was ging mir alles durch den Kopf? - Meinen eineinhalbjährigen Sohn legte ich noch zum Mittagschlaf. Konnte er das alles begreifen, warum sein Vater plötzlich weg war? - Der Abschied von meiner Frau - Abschied, für wie lange? Dann der Weg zum Wehrkreiskommando, etwa 200 Meter von unserer Wohnung - ein weiter Weg.

"Guten Tag, hier bin ich." - "Nein, ich werde nicht." Und dann lange Erklärungen. Ich weiß nicht, wie oft ich sie in der folgenden Zeit gegeben habe. Immer in der Hoffnung, verstanden zu werden, aber auch in dem Wissen, dass mein Gegenüber mich nicht verstehen kann. Er trug die Uniform, die ich nie anziehen würde.

Aber man war freundlich: Wollen sie wirklich nicht? Haben sie sich das richtig überlegt? Wollen sie nicht noch einmal...? - Nein, ich habe es mir reichlich überlegt! Ich werde mich nicht beteiligen. Ich kann keinen Dienst in einer Armee leisten, keinen, der Krieg ermöglicht, heute nicht und nicht hier in Mitteleuropa. Alles auf Konfrontation gerichtete Reden und Handeln, ob psychologisch, pädagogisch, politisch oder wirtschaftlich, ist Kriegsvorbereitung. Ich bin überzeugt davon, dass jeder Dienstzwang, ob zu einem militärischen oder alternativen Dienst, entwürdigend für jeden Menschen ist. Zwang bedeutet immer auch entmündigen, besonders wenn er mit der Forderung nach bedingungslosem Gehorsam verbunden ist.

Überall konnte man damals lesen: "Mein Kampfplatz für den Frieden - mein Arbeitsplatz". Ich konnte diesen Satz durchaus bejahen. Doch plötzlich sollte er nicht mehr stimmen, denn die Einberufung bedeutete: Jetzt zählt die Arbeit nicht mehr; es ist gleichgültig, ob sie in den nächsten zwei Jahren geleistet wird.

Das begriff ich nicht - schon gar nicht in meiner Tätigkeit als Sozialdiakon (Jugendseelsorger), wo ich ständig mit Menschen zu tun habe, mit Jugendlichen, die es in ihrem Leben wahrlich nicht leicht hatten, die von sozialen Nöten und menschlichem Unvermögen geprägt und gezeichnet waren. Sie hatten Vertrauen in unsere Gespräche gesetzt und Hoffnungen gehabt. Wir waren mitten im Gespräch, noch nicht am Ende. Und mit der Einberufung wurden die Gespräche nun unterbrochen, wurden Hoffnungen zerstört. Daran konnte doch niemand ein Interesse haben! Menschen verlassen müssen, Beziehungen unterbrechen - das kann doch kein Dienst für den Frieden sein.

Ich versuchte mich verständlich zu machen und stieß auf Gesetze. "Wissen Sie, was Sie erwartet?" - Ja, ich weiß." - "Sie wollen also Ihre Frau und Ihre Kinder allein lassen?" - "Von wollen kann gar nicht die Rede sein! Die Entscheidung liegt nur bei Ihnen." Immer wieder ging es hin und her und brachte Unverständnis oder besser: ein Nicht-verstehen-können auf beiden Seiten zu Tage. Es waren ausweglose Gespräche; manchmal hatte ich den Eindruck, dass die Konsequenzen von beiden Seiten nicht gewollt waren.

Wie ging es dann weiter? Ich erinnere mich: Protokolle, Unterschriften, Diskussionen darüber und wieder: "Bitte, warten Sie draußen. Vor der Tür ein Soldat zur Bewachung. Bewachung? Wofür? Habe ich mich nicht selbst gestellt?! Weiß er überhaupt, weshalb ich hier bin?

Vor der Fahrt zur Untersuchungshaft: Der Wachsoldat vor dem Gebäude des Militärstaatsanwaltes steht auf und grüßt, als wir hinaus gehen. Mich? Ich muss lachen über die Ironie der Situation.

Dann die U-Haft: Noch auf dem Parkplatz: "Bitte, kommen Sie." Nachdem sich - ich weiß nicht wie viele - Stahltüren hinter mir geschlossen haben, verändert sich der Umgangston. "Gesicht zur Wand!" schreit eine Polizistin. Als ich nicht begreife, dass ich gemeint bin, noch einmal, noch lauter und, wie ich finde, aggressiver. Dann: Fliegerstellung, mit den Händen gegen die Wand gestützt, die Füße weit auseinander, werde ich von oben bis unten abgetastet. "Name!", "Geboren!" ... Alles geschrien. 

Ich begreife nicht, weshalb, doch es macht Eindruck auf mich, macht mir Angst. Später wird mir klar, dass dies Mittel zum Zweck ist. Immer wieder Stahltüren, Riegel, neue Beamte, Taschen auspacken. Der Inhalt wird einbehalten. Protokolle, Unterschriften... Dann die erste Begegnung mit einer Zelle, eine Art "Wartezimmer", nur weiß man nie, worauf. Fensterlos, mit grünlicher Ölfarbe bis an die Decke gestrichen, Leuchtstoffröhren, zwei feststehende Bänke.

In der Zelle sitzen schon andere. Sie werden angeschrien, weil sie nicht aufgestanden sind, als sich die Tür öffnet. Sie sind verunsichert. Später werden wir automatisch aufstehen, immer, wenn sich die Tür öffnet. Jetzt grübeln wir noch, wieso. Auch sie sind Totalverweigerer, vor allem Zeugen Jehovas. Dass wir uns in den folgenden zwei Jahren noch häufig sehen, zusammen in solchen Zellen sitzen, Freunde werden, haben wir kaum geahnt.

In dieser Situation spüre ich zum ersten Mal ein grundlegendes Misstrauen. Jeder hat es jedem gegenüber. Wer ist der andere? Kann man ihm trauen? Dieses Misstrauen verdirbt die Beziehungen. Wie berechtigt es ist, erfährt man nie. Später, im Vollzug, wird es deutlich: Ständig wird in der Hoffnung auf einen kleinen Vorteil denunziert. Wir belauern uns, achten auf kleinste Abweichungen, entdecken Unterschiede: Dem einen wurden die Schnürsenkel abgenommen, der andere trägt noch seine Krawatte. Aber keiner versteht den Sinn dieser Unterschiede. Ich spüre zum ersten Mal, dass hier eine andere Logik gilt.

Nach Stunden des Wartens bekommt jeder eine Schüssel mit Seife, Rasierpinsel, Bettwäsche und schließlich auch "seine" Zelle. Der Begriff "Zelle" ist allerdings verboten, es heißt "Verwahrraum". Ich werde verwahrt, aufbewahrt... Vor wem? Wofür?

Dann allein im "Verwahrraum": Was soll ich jetzt tun? Was wird von mir erwartet? Ich will nicht provozieren, will meinen Friedenswillen zeigen. Aber wie verhält man sich, wenn man nicht weiß, was verboten, was erlaubt ist? Ich beziehe ein Bett, das zweite bleibt leer.

Nun habe ich Zeit. Wieviel Zeit, ahne ich noch nicht. Ich weiß noch nicht, wie lang ein Tag ist, der mit Nichtstun ausgefüllt ist und dessen Abwechslung lediglich darin besteht, zu sitzen oder herumzulaufen, nachzudenken oder zu grübeln. Nach der Hektik der letzten Wochen zermürbt dies noch mehr. Und dann noch die Ungewissheit, was passiert, wenn die beiden Riegel und das Schloss geöffnet werden.

Aber schon nach einer Woche macht sich Gewohnheit breit. Im Ablauf der Tage wird für mich ein System sichtbar. Sogar an den rauen Ton beginne ich mich zu gewöhnen. Ich erkenne Beamte wieder und habe eine vage Vorstellung vom gesamten Gebäude. Zum Glück sind wir je zu zweit - und wir verstehen uns! Es muss schrecklich sein, so dicht zusammenzuleben und sich dann auch nicht einmal zu verstehen. Man ist ja auf so engem Raum zur Intimität gezwungen, z.B. durch die Toilettenbenutzung im gleichen Raum. 24 Stunden lebt man täglich zusammen - mehr als zuhause mit der eigenen Familie.

Ich habe mir nie vorstellen können, dass eine 24-Mann-Zelle, wie ich sie dann im Strafvollzug erlebt habe, angenehmer sein kann als eine kleine Zelle. Aber auch da ist das Schlimmste, dass du fast nie allein mit dir selbst bist! Jedes Wort, jeder Handgriff, alles wird von anderen verfolgt.

Und auch die Briefe, die du bekommst oder schreibst, liest ein anderer mit, ein Vollzugsbeamter. - Was geht den eigentlich meine Post an? Mancher Satz bleibt darum in der Feder stecken. Also schreibe ich die Briefe auch für ihn, nicht nur für meine Familie. Aber soll er ihn doch lesen, sage ich mir manchmal, vielleicht kommt dann auch bei ihm etwas in Bewegung. So wird das Briefschreiben zu einer bevorzugten, zu einer lieben Beschäftigung. Ich habe ja Zeit, kann jedes Wort genau überlegen.

Und auch das gehört zur Haft: Mir ist ein Brief nicht ausgehändigt worden. Ich habe beim "Sprecher", einem einstündigen Besuch, der nur einmal im Monat gestattet wird, von meiner Frau erfahren, dass sie mir ein Gedicht des DDR-Schriftstellers Hanns Cibulka abgeschrieben hat. Als ich beim "Erzieher", dem für mich zuständigen Polizeioffizier, nach Gründen frage, bekomme ich zur Antwort: "Dieser Brief ist pädagogisch nicht wertvoll." "Aber es steht doch nur ein Gedicht von Cibulka drin. Das Buch ist soeben in der DDR erschienen." "Was pädagogisch wertvoll ist, entscheide ich." - Ich meldete mich ab. Dass das Buch in der Strafvollzugsbücherei ausleihbar ist, sagte ich nicht mehr.

Der Strafvollzug ist besser als die U-Haft, sagt jeder der Alten. Und das sage ich mir auch, als ich im "Zugang" am Abend auf dem Bett liege. Meine Privatsachen sind bei den "Effekten" eingeschlossen. Ich habe eine alte, zerknüllte, weinrot bis braun gefärbte Uniform bekommen.

Vor zwei Stunden sind meine Haare "gefallen". Während der sieben Wochen, die ich in U-Haft zugebracht habe, hatte ich mich dagegen erfolgreich wehren können. Ein Fremder sieht mich aus dem Spiegel an. In den nächsten 19 Monaten werden wir uns jeden Morgen so sehen.

Unser Land ist winzig, seine Sitten sind mir fremd. Es wird mich unmerklich prägen. Ob ich am Ende noch ich selbst bin? Werde ich durchhalten? Werden die draußen durchhalten? Fragen, die vielleicht allen durch den Kopf gehen. Ich kann mir noch nicht vorstellen, wie schwer es sein wird, hier im Alltag mit der Bergpredigt zu leben. Zum Glück sind die anderen genauso verunsichert wie ich. Kurze Gespräche: "Warum bist du hier?" und vor allem "Wie lange hast du?" - Ich muss länger "sitzen" als die anderen - mit einer Ausnahme. Er habe einen erschossen, sagt er, mehr nicht. Seltsam, dass gerade wir beide fast eine Stunde miteinander reden. Wahrscheinlich sind wir die einzigen, die nicht prahlen wollen.

"Du hast Schwein gehabt", sagen die anderen, als ich im Krankenrevier eingesetzt werde. Ich bin erleichtert, weil nun die Zukunft klar scheint. Vielleicht ist es auch die Hoffnung auf eine sinnvolle Tätigkeit. Dass man jeden Tag verlegt werden kann, weiß ich noch nicht.

Ein halbes Jahr später werde ich verlegt: zum Kommando Zementwerk. Alles ist anders. Wieder ein Anfang. Zum Glück kenne ich viele, hatte sie während ihrer Krankheit auf dem Revier gut behandelt. Das zahlt sich aus. Ich muss nicht, wie alle Neuen im Drei-Stock-Bett oben schlafen, denn die Luft da oben ist zum Schneiden. Aber neu bin ich trotzdem: "Warum bist du hier?" Und: "Wie lange schon?" Jeder Neue ist eine willkommene Abwechslung. Und jedes Mal wieder Fragen nach den Gründen meiner Entscheidung. Wir sind im Gespräch. Einige finden meinen Entschluss richtig, andere halten mich für einen Spinner.

"Der weiß wenigstens, warum er hier ist." Das ist aber auch das einzige, was ich ihnen voraushabe. Ich bin sozusagen freiwillig hier. Aber manchmal kommt auch der Zweifel und bohrt: Wozu dies alles? Wird die Welt dadurch besser? Wem ist mit meiner Entscheidung geholfen? - Es gibt Fragen, die quälen. Manchmal scheint die Situation ausweglos. Du bist allein. Es fehlt die Alternative. Verkriechen ist nicht möglich. Nur eines hilft, mich immer wieder daran zu erinnern, dass ich bei anderer Entscheidung die Zeit bei der Armee verbringen müsste: also eine Wahl zwischen zwei Übeln. Gegen das eine konnte ich mich wehren, aber es bleibt der schale Geschmack. Und es bleiben Fragen und tiefe Trauer.

Und auch das gehört zum Alltag: "Rausrücken" zur Arbeit, antreten. Wir trotten in Dreierreihe zum Tor. Auf "Halt!" bleiben wir mechanisch stehen. Ich höre meinen Namen und eine Nummer. Ich bin keine Nummer, denke ich, und plappere doch die sechs Ziffern beim Vorbeigehen am Schließer nach. Der aber hört mich gar nicht, ist schon beim nächsten Namen und der nächsten Nummer.

Die Fahrt zum Betrieb bietet Abwechslung. Bäume, Sträucher, Wiesen und Menschen. Die Welt läuft weiter ohne uns. Frauen stehen an der Bushaltestelle. Durch den Bus geht Bewegung. Der Vollzugsbeamte befiehlt "Ruhe". Er weiß, dass es sinnlos ist, doch auch er hat seine Pflichten. Der Betrieb ist uralt. Da hier auch "Zivile" arbeiten, vermute ich, dass andere Chemiebetriebe nicht besser aussehen.

Arbeit im "Knast" mag für viele als Strafe erscheinen. Ich erlebe es anders. Mir hilft die Arbeit, die Zeit zu verbringen. Jede Schicht bedeutet einen Monat Abwechslung. Es gibt kaum entwürdigende Arbeiten. Tätigkeiten, die gegen den Arbeitsschutz verstoßen, kann man ablehnen. Doch sie werden gemacht, meist sogar freiwillig: aus Leichtsinn, Bequemlichkeit oder Imponiergehabe. Manchmal auch der Prämien wegen: für einen Eimer schwarzen Tee beispielsweise. Das schreibt sich leicht dahin. Aber was heißt schon freiwillig riesige Berge Zement wegzukarren oder aus einem noch heißen Ofen Steine auszubrechen? Ist es nicht immer die Hoffnung auf Anerkennung und Lob, auf manche Vergünstigung bis hin zur vorzeitigen Entlassung?

Wir stehen nach Rückkehr von der Arbeit am Tor, sollen "geschlossen" werden. Nichts passiert. "Die saufen wieder Kaffee!", ruft einer. Und immer wieder tönt es "Aufschluss!". Schimpfwörter fallen. Die Stimmung ist gereizt. Es ist gleichgültig, auf welcher Seite des Tores wir stehen. Doch das Warten ist unerträglich. "Alles Haftzeit!" brummt einer, ein anderer ulkt: "Etwas Strafe soll es ja auch sein!". Alle lachen. Trotzdem ist die Atmosphäre gespannt, als wir endlich "geschlossen" werden.

"Sprecher": Wieder ein Monat um! Eine Stunde mit meiner Frau oder einem anderen Lieben verbringen. Freiheit riechen! Leben ahnen! Und dann zurück in den Verwahrraum. Jetzt taub sein, nicht auf die dummen Fragen reagieren. Sie werden aus Angst gestellt. "Was hast du reingekriegt? Zeig doch mal?" Keiner kann zugeben, wie weh es tut, nicht mitgehen zu können. Die Antworten sind "cool". Das Glas des Schutzschildes vibriert! Jetzt ins Bett kriechen, die Decke über den Kopf ziehen.

"Filzung": Wir sind todmüde, als wir den Hof nach der Nachtschicht betreten. Vorn ruft einer "Filzung!". Scheiße, denkt jeder, der den Verwahrraum betritt. Alles liegt durcheinander, die Betten sind zerwühlt. "Mir fehlt ein Brief!", ruft einer, ein anderer sucht ein Bild. Flüche werden laut. Nicht alles findet man wieder, nicht nur Verbotenes fehlt. Wer es genommen hat, bleibt unklar. Vielleicht hat einer auch nur das Chaos genutzt.

"Mein Pack Tee haben sie nicht gefunden", ruft einer aus der Ecke - unbedacht, wie sich am nächsten Tag zeigt. Es wurde wieder gefilzt und diesmal wurde der Tee gefunden. Wer der "Anscheißer" war, erfahren wir nie, nur selten wird einer entdeckt. Aber alle sind davon überzeugt, dass Vergünstigungen nicht umsonst zu haben sind. Die Folge ist Misstrauen.

Trotz der Vergünstigung - ich darf in einem separaten Raum Fachliteratur lesen - genieße ich als Verweigerer einen Vertrauensvorschuss. Liegt es am "Delikt" oder wird das Lesen gar nicht als Vergünstigung gesehen? Oder liegt es gar daran, dass ich keinen der Mitgefangenen zu übervorteilen suche?

Vier Monate vor Ablauf der Strafzeit wird mir mitgeteilt, dass mein Anwalt vorzeitige Entlassung beantragt hat. Ich bin gespannt, was dabei herauskommen wird. Von Seiten des Strafvollzuges wird es kaum Einwände geben. Aber zum Glück rechne ich nicht ernsthaft mit einer vorzeitigen Freilassung. Im gleichen Monat, in dem der Antrag abgelehnt wird, verlassen drei ausreisewillige Totalverweigerer die DDR in Richtung Bundesrepublik. Wieder tauchen Fragen auf und wieder gibt es keine Antworten. Wer sollte sie auch geben?

Entlassungstag: Meine Entlassung verzögert sich. Wir müssen antreten, werden gezählt. Ich stehe in der Reihe, höre Kommandos. Mir wird noch einmal deutlich vor Augen geführt, dass ich erst entlassen bin, wenn das Tor hinter mir ins Schloss fällt. Ich werde entlassen, weil ich das Urteil "abgesessen" habe. Was aber bleibt? 

Ich glaube noch immer nicht, dass man das Lied des Friedens auf dem Instrument der Gewalt spielen kann. Frieden kann nur das Produkt von Vertrauen und Mündigkeit sein. Welchen Sinn hat das aber alles gehabt? Die Welt hat sich doch nicht verändert. Auch heute noch fehlt vielen Kindern der Vater, weil er in einer Armee dienen muss!

Aber vielleicht konnte ich einigen Mut machen, sich meinem Beispiel anzuschließen und diesen Weg einzuschlagen. Denn er ist und bleibt, davon bin ich heute so überzeugt wie damals, der einzig richtige Weg! 

(Mai 2021) 


Dieser Text, den wir mit freundlicher Genehmigung von Michael Frenzel veröffentlichen, wurde erstmals veröffentlicht in: Kriegs-/Ersatzdienst-Verweigerung in Ost und West / Heinz Janning, Klaus Pokatzky, Hans Jürgen Röder, Peter Tobiassen (Hg.). Essen, Klartext-Verlag 1990.

Michael Frenzel, geboren 1956 in Alsleben an der Saale. Nach der Ausbildung zum Chemiefacharbeiter Studium zum Sozialpädagogen und Sozialdiakon im Kirchlich-Diakonischen Lehrgang (KDL) in Berlin-Weißensee. 10 Jahre im Kirchenkreis Berlin-Lichtenberg als Sozialdiakon für Sozialdiakonische Kinder- und Jugendarbeit tätig.
Wurde 1982 wegen Totaler Kriegsdienstverweigerung in der DDR für 20 Monate inhaftiert. 1986 ist er in Ost-Berlin einer der Initiatoren des Freundeskreises Wehrdiensttotalverweigerer, dessen Ziele gewaltfreie Konfliktlösungen und die "uneingeschränkte Anerkennung des Menschenrechts auf Wehrdienstverweigerung" sind.
Seit 1998 Stadtjugendwart in Berlin (Ost) mit Schwerpunkt Sozialdiakonische Kinder- und Jugendarbeit und Beratung und Begleitung von Wehrpflichtverweigern.

Hinweise: