Martin Böttger (Jg. 1947): Meine "Schule der Opposition"
Der Waffendienstverweigerer Martin Böttger (stehend) im Garten der Erlöserkirche am 27. Juni 1982 während der ersten Friedenswerkstatt in Ost-Berlin. Unter dem Motto "Hände für den Frieden" fordern die Teilnehmer die Einführung eines zivilen Ersatzdienstes.
Von Martin Böttger
Als 99 % der wehrpflichtigen jungen Männer in der DDR ihren „Ehrendienst in der Nationalen Volksarmee“ leisteten, diente ich ohne Waffe als Bausoldat in Groß-Mohrdorf bei Stralsund. Ich nahm eine rechtliche Möglichkeit wahr, die im Prinzip jedem jungen Mann offen stand, jedoch aus Unkenntnis - in einigen Fällen wohl auch aus Angst - nur von wenigen genutzt wurde.
Für mich bestand eine bedeutende Schule in meiner Bausoldatenzeit. 1964 wurden in der DDR die ersten Bausoldaten eingezogen. Auf einem im September 2004 veranstalteten Bausoldaten-Kongress in Potsdam traf ich auf viele Menschen, die ganz ähnlich wie ich durch ihre „Spaten-Zeit“ entscheidend geprägt wurden.
Wer sich zu den Bausoldaten mustern ließ, meldete sich an einer Schule an. Keine Schule für Theoretiker in Militär-, Gesellschafts- oder Politikwissenschaften. Sondern eine Schule der praktischen Erfahrung. Eine Schule für das Handwerk der Opposition.
Mit der Einberufung zur Baueinheit wurde der junge Mann kein Student, sondern Lehrling. Zwar lernte er, wenn er Glück hatte, in seiner Einheit so manchen Theoretiker kennen und erfuhr viel über Mechanismen einer autoritären Diktatur. Die Herrschaftsmechanismen bekam er aber zuerst und viel eindrücklicher als es jeder Theoretiker vermocht hätte, ganz praktisch und elementar vorgeführt. Er hatte den Widerstand gegen Herrschaft im täglichen Überlebenskampf seiner Individualität selbst zu entwickeln.
Ich kam durch mein Christsein zur Verweigerung des Waffendienstes (5. Gebot). Zur Musterung mit 18 Jahren sagte ich das noch nicht und durfte darauf 5 Jahre lang studieren. Erst während dieser Zeit, v. a. durch die Evangelische Studentengemeinde, reifte in mir der Wunsch, mich zu den Bausoldaten zu melden. Das tat ich dann mit 23 Jahren im Jahr 1970, als ich bereits das Diplom sicher hatte und meldete das bei der Einberufungsüberprüfung an. Das ging relativ unkompliziert vonstatten - ich musste keine lange Begründung abgeben. Meine Eltern unterstützten selbstverständlich meine Entscheidung. Mein Vater Dietrich, Jahrgang 1900, war Pfarrer in dem kleinen Bauerndorf Frankenhain in Sachsen. Während der Hitlerdiktatur gehörte er der Bekennenden Kirche an. Sein Bruder, ebenfalls Pfarrer, hielt sich dagegen zu den Deutschen Christen, die keine Probleme mit der Rassenideologie der Nazis hatten. Dadurch ging ein Riss mitten durch diese Familie. Vielleicht erhielt ich schon durch meinen Vater eine Prägung, nicht auf staatliche Ideologie hereinzufallen. Anfangs machte ich noch vieles mit. Wie alle meine Schulkameraden war ich Mitglied der Jungen Pioniere, später dann auch der FDJ. Erst mitten im Studium trat ich aus der FDJ aus. Das war dann meine erste klare widerständige Handlung. Sie wurde von der Mehrheit meiner Seminargruppe unterstützt und ich durfte bis zur Diplomprüfung weiter studieren. Nur ein anschließendes Promotionsstudium wurde mir wegen meines Austritts aus der FDJ verwehrt.
Ich habe meine Bausoldatenzeit als Schule praktischer Opposition gegen Befehlsgewalt erlebt. Darum habe ich damals, 1970 bis 1972 nicht gelernt, wie man politische Essays schreibt, sondern wie man sich unerlaubt von der Truppe entfernt. Ich lernte nicht, Reden zu halten, dafür aber die Vorgesetzten auszutricksen. Auch viele meiner Freunde in der Baukompanie beherrschten weniger die Schreibkunst, als das Übersteigen von Zäunen. Sie hatten Hände, die zu gebrauchen weniger Intellekt, als viel mehr Mut erforderte.
War es eine mutige Tat, eine konspirative Gruppe zu gründen? Irgendwann im Jahre 1971 suchte ich mir aus jeder der fünf Zehn-Mann-Baracken der Baustelle Groß-Mohrdorf bei Stralsund einen Menschen, mit dem ich über alles reden konnte. Bald trafen sich Christoph, Konrad, Michael, Wolfgang und ich ganz heimlich irgendwo im Gelände und verabredeten regelmäßige Beratungen über alles, was sich um uns zutrug. Wir wollten nicht von Offizieren bemerkt, aber auch nicht von den Stasi-Spitzeln unter uns verraten werden. So trafen wir fünf uns heimlich und unbemerkt, mal in einem Bauwagen, mal in einem Zelt, mal in einem der Bunker, den wir gerade bauten. Wir redeten über die Schikanen der letzten Woche, über die Möglichkeit, die Arbeitsleistungen noch weiter herunterzuschrauben, über drohende Bestrafungen, aber auch über die Gefahr der Korrumpierung einzelner durch Belobigungen wegen ihrer guten Arbeit. Sogar über Sabotageaktionen dachten wir nach.
Hatte dies Konsequenzen? Zuerst wohl nur für uns, indem wir glaubten, eine widerständige Zelle aufgebaut zu haben. Wenn wir zurück in unsere Baracken kamen, merkte keiner etwas. Keiner sah uns unseren Mut an. Nur einmal, als wir gemeinsam an dem einzigen Pfarrer unter uns, dem allseits beliebten Siegfried Neher, vorbeikamen, lästerte dieser, nur für uns hörbar: „Aha, man konspiriert wohl wieder.“
Lange beschäftigte uns Helmut S., ein für uns undurchsichtiger Bausoldat. Mal belehrte er uns, dass man im Falle des Aufstandes zuerst die Energiezentralen abschalten müsse. Ein andermal behauptete er, schon für die Stasi gearbeitet zu haben. Mal begehrte er auf, ein andermal duckte er sich ab. Nie wussten wir, ob er eine Strategie hatte und ob wir eventuell gemeinsame Sache mit ihm machen könnten.
Dann trat er plötzlich zu den Soldaten über. Seine offizielle Begründung: die für ihn überzeugenden Gespräche mit dem Politoffizier. Inoffiziell uns gegenüber: wir Bausoldaten seien doch allesamt Flaschen und zu keinen wirklichen Aktionen fähig. Wie auch immer: es gab eine feierliche Vereidigung durch den Bataillonskommandeur, Lob mit Beförderungsaussicht für den Politoffizier und einen Feiertag für die Stubengenossen des neuen Soldaten. Diese erzählten uns aber später, dass Helmut sich manchmal merkwürdig verhielt. Er schmiss sich aufs Bett, lachte und weinte gleichzeitig, war öfters nicht ansprechbar. Wir Fünf beschlossen darauf, näheres in Erfahrung zu bringen. Es sollte uns nicht gelingen, denn bald verschwand Helmut spurlos.
Nach etwa drei Monaten verkündete der Politoffizier beim Appell: „Der ehemalige Soldat Helmut S. wurde wegen staatsfeindlicher Hetze durch das Bezirksgericht Halle zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt.“ In dem allgemeinen Erschrecken hörten wir den Offizier beim Weggehen sagen: „Er hätte 10 Jahre bekommen sollen.“
Ich weiß bis heute nicht, was Helmut getan hatte und was aus ihm wurde. Sicher wurde er irgendwann freigekauft und einmal hörte ich bei einem Ehemaligen-Treffen gerüchteweise, dass er in München lebe. Noch oft träumte ich von ihm.
Nach meiner Dienstzeit als Bausoldat war dann ganz klar meine Karriere zu Ende. Ich durfte zwar als einfacher wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Datenverarbeitung (Kombinat Robotron) arbeiten, hatte jedoch null Aufstiegschancen. Selbst Gruppenleiter o.ä, durfte ich nicht werden.
Unmittelbar nach ihrer Entlassung leistete eine Gruppe ehemaliger Bausoldaten, zu denen ich gehörte, einen Arbeitseinsatz im zivilen Bereich, um ihre Bereitschaft zu einem echten Zivildienst zu demonstrieren. Das fand im Klärwerk Münchehofe bei Berlin statt. Nach dem zweiwöchigen Arbeitseinsatz schickten wir einen Brief an Erich Honecker, in dem wir um die Einführung eines zivilen Ersatzdienstes in der DDR baten (s. PDF-Datei unten). Auf diese Eingabe erhielten wir jedoch keine Antwort. Auch eine Erinnerung von mir persönlich an Honecker fruchtete nicht.
Trotz der Karriereverweigerung (oder vielleicht gerade deswegen?) blicke ich positiv auf meine Bausoldaten-Zeit zurück. Natürlich gab es Schikanen. Auf der anderen Seite lernte ich viele wertvolle Menschen kennen, die mir interessante Anregungen gaben. Deswegen spreche ich von dieser Zeit als meiner „Schule der Opposition“.
(13.04.2021)
Dr. Martin Böttger, wurde 1947 in Frankenhain (Sachsen) als Sohn eines Pfarrers geboren. Von 1965 bis 1970 studierte er Physik. Da er jedoch den Dienst an der Waffe verweigerte und sich nach dem Studium nur als Bausoldat hatte einziehen lassen, wurde ihm eine anschließende Promotion verweigert.
Seit 1972 war er in der kirchlichen Friedensarbeit aktiv. Auf einer 1. Mai-Demonstration 1975 trug er ein Plakat mit der Aufschrift "Für die Verwirklichung der Menschenrechte", ohne behelligt zu werden. Ein Jahr später wurde er von der Stasi bereits vor der Demo abgefangen und sechs Stunden verhört. Er hatte auf ein Schild das Wort "Abrüstung" geschrieben. Auf der 1. Mai-Demonstration 1980 in Berlin trug er ein Plakat, auf dem ein umgedrehter Stahlhelm zu sehen war, aus dem eine Blume wuchs. Wegen „versuchter Teilnahme an einer Menschenkette zum Weltfriedenstag“ am 1. September 1983 vor der sowjetischen und der US-amerikanischen Botschaft wurde er verhaftet und zwei Wochen später aufgrund der Intervention bundesdeutscher Parteien entlassen. Er war 1985 Mitbegründer der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ (IFM) und war an der Herausgabe und Verbreitung von Samisdat-Zeitschriften beteiligt.
1989 war er Gründungsmitglied des Neuen Forum und Koordinator dieser Bürgerbewegung im Bezirk Karl-Marx-Stadt. Im März 1990 wurde er auf der Liste von Bündnis 90 in die Volkskammer gewählt, gab aber das Mandat unmittelbar an Werner Schulz ab. Von 1990 bis 1994 war er Mitglied des Sächsischen Landtags und Vorsitzender der Fraktion Neues Forum – Bündnis – Grüne (Forum). Von 2001 bis 2010 war er Leiter der Chemnitzer Außenstelle der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Seit 2009 gehört er als bündnisgrüner Abgeordneter dem Zwickauer Stadtrat an. Er ist Vorsitzender des Martin-Luther-King-Zentrums für Gewaltfreiheit und Zivilcourage e.V. in Werdau. Für sein lebenslanges Engagement wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. 2018 mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.
Hinweise:
- Brief ehemaliger Bausoldaten an Honecker wegen Einführung eines zivilen Ersatzdienstes (PDF-Datei)
- Wikipedia: Martin Böttger
- Zeitzeugenbüro: Martin Böttger
- Revolution und Mauerfall: Martin Böttger