Georg „Schorsch“ Meusel (Jg. 1942): „Schwerter zu Pflugscharen“

Von Georg „Schorsch“ Meusel

Bomben auf Planitz und Fahnenappell

Meine Eltern waren während des Nationalsozialismus beide im Kirchenkampf auf Seiten der Bekennenden Kirche (BK) in Sachsen aktiv. Nachdem mein Vater, als BK-Pfarrer von der Gestapo verhaftet, für kurze Zeit in ein Zwangsarbeitslager verbracht und dann als Funker bei der Wehrmacht in Norwegen eingesetzt war, leitete meine Mutter, die ausgebildete Kirchgemeindehelferin war, die etwa 2000 Mitglieder zählende BK-Gemeinde in Planitz bei Zwickau. Nach Entlassung aus der britischen Kriegsgefangenschaft Ende 1946 wurde mein Vater Gemeindepfarrer in Planitz und Jugendpfarrer für die Ephorie (Kirchenbezirk) Zwickau, 1954 dann in Werdau.

Die Bombennächte in den letzten Kriegstagen 1945, als ich drei Jahre alt war, sind meine früheste Kindheitserinnerung. Vielleicht wurde ich dadurch für die Thematik Krieg und Frieden, Gewalt und Gewaltfreiheit besonders sensibilisiert. 

Ich wurde streng erzogen, aber von meinen Eltern auch an das Wandern, Flügelhorn blasen, Schachspielen und Lesen herangeführt. Ein weiteres Hobby war es, Briefmarken zu sammeln. 
Seit der frühen Jugend dann betrieb ich auch Auslandstausch mit Briefmarken- und Brieffreunden. Die kleinen Marken, aber auch die Briefe aus den USA, Indonesien und der Schweiz wurden für mich Fenster zur Welt, wohin wir ja aus der DDR nicht reisen durften. Auch mit Fahrtenliedern zur Gitarre, wie „…vom Meer bis zum Alpenschnee“, träumte ich mich in eine mir verwehrte Ferne.

Ich wuchs als erstes von sieben Kindern auf. Dadurch musste ich unter den völlig veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, mit denen meine Eltern keine Erfahrungen hatten, immer Neuland betreten und erkunden. Mein Vater war zwar gegen den Faschismus, aber kein Pazifist. Seine ihn noch prägenden Wurzeln lagen in einem elterlichen und kirchlichen konservativen Umfeld, das eher noch dem Kaiserreich, als der Weimarer Republik zugeneigt war und lutherisch obrigkeitshörig. Sein Widerstand bezog sich vor allem auf Glaubensfragen. 

Meine persönlichen Werte in der frühen Jugend waren vom christlichen Elternhaus und dem sächsischen Pietismus geprägt. Der in der Schule vermittelte, im Westen „aufgesetzter Antifaschismus“ genannte Antifaschismus, war für mich überhaupt nicht aufgesetzt. Wenn auch der kommunistische Widerstand besonders hervorgehoben wurde, spielten doch auch der sozialdemokratische und christliche eine Rolle. So gehörte z.B. Ernst Thälmann zu meinen großen Vorbildern. Ich gründete sogar als Elf- oder Zwölfjähriger unter den Jungen meiner Klasse einen geheimen „Kampfbund gegen Ungerechtigkeit ‚Ernst Thälmann‘“. Ansonsten war ich, als Pfarrerssohn und als unsportlich geltend, eher Außenseiter und hatte nur zeitweise einen Freund. 

Gandhi, Remarque und Borchert

Im Unterricht in den Fächern Geschichte und Gegenwartskunde äußerte ich mich kritisch, war nicht Mitglied der Jungen Pioniere und der Freien Deutschen Jugend und nahm nicht regelmäßig am Fahnenappell teil, der montags und sonnabends abgehalten wurde. Deshalb musste ich nach der 8. Klasse die Schule verlassen, konnte also die Mittlere Reife oder das Abitur nicht ablegen. Ich begann mit 14 Jahren eine dreijährige Gärtnerlehre. Weil ich mich weigerte, das „Bekenntniszeichen“ der Jungen Gemeinde, einen kleinen Anstecker, abzulegen, wurde ich aus der Berufsschule verwiesen und konnte erst nach Protesten, bis hin zu Staatspräsident Wilhelm Pieck und Ministerpräsident Otto Grotewohl, die Berufsschule fortsetzen. 

Wir hatten einen jungen Fachlehrer, Rolf Lichtenstein, der uns außerhalb des Lehrplans voller Sympathie von Gandhi erzählte. Als gegen Schuljahresende der Lehrplan geschafft war, las er uns u.a. aus Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ vor. (Sein Vater hatte das Buch während des Nationalsozialismus unter dem Ofenblech versteckt.) 

Bis dahin wusste ich nicht, was Pazifismus ist. Dieser begeisterte mich sofort und ich merkte, dass Gandhi und Remarque als Nicht-Christen das vertraten, was entsprechend dem Neuen Testament auch Aufgabe der Kirche gewesen wäre. Remarque war in der DDR nicht verboten, wurde aber auch nicht aufgelegt. In einer privaten Bibliothek in Gera konnte ich „Im Westen nichts Neues“ ausleihen. Mein Vater jedoch, als ich mit dem Buch ankam, meinte, „man soll nicht in jedem Dreck wühlen“. Andererseits sympathisierte er mit Martin Niemöller als dem Begründer des Pfarrernotbundes für die Bekennende Kirche, und kam so nach und nach auch mit Niemöllers Pazifismus in Berührung. Die Kriegsdienstverweigerung im Westen wurde bei uns natürlich auch diskutiert. Doch existenziell betraf sie uns nicht, weil es die Wehrpflicht in der DDR zu diesem Zeitpunkt noch nicht gab. 

Zufluchtsort und Freiraum Junge Gemeinde

Nachdem mein Bruder Michael 1960 in Leipzig ein Theologiestudium begonnen hatte, leitete ich unsere Gruppe der Jungen Gemeinde (JG) in Werdau/Sachsen.

In den Zusammenkünften behandelte ich sowohl vor als auch nach meiner Wehrdienstverweigerung außer biblischen und lebenskundlichen Themen
pazifistische Literatur von Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Albrecht Goes und Erich Maria Remarque.

„Eines Tages dann, da wird es vorbei sein, alles, der Krieg und Hitler, und da haben wir eine neue Aufgabe, und wir wollen redlich mit ihr zu Rate gehen. Dann geht es um das innere Bild aller dieser Dinge und des Krieges überhaupt. Es ist notwendig, ihn zu entzaubern. Man muss es dem Bewusstsein eintränken, wie schmutzig dieses Handwerk ist. Wir müssen wissen, dass der Dienst mit Schaufel und Hacke ehrenwerter ist als die Jagd nach dem Ritterkreuz. Übermorgen wissen das alle und wissen es für ein paar Jahre. Aber lassen Sie nur erst das neue Jahrzehnt herankommen, da werden Sie’s erleben, wie die Mythen wieder wachsen wie Labkraut und Löwenzahn. Und dann werden wir zur Stelle sein müssen, jeder ein guter Sensenmann.“

     
(Albrecht Goes, Unruhige Nacht [1])


In unserer Volksbuchhandlung fand ich das Taschenbuch „Wolfgang Borchert – Auswahl“ aus dem Verlag für fremdsprachige Literatur Moskau.[2] Es enthielt dessen aufrüttelnden Text „DANN GIBT ES NUR EINS!“ mit der eindringlichen, hämmernden Wiederholung „Sag NEIN!“. Dieser war in der DDR nicht erschienen. Das knapp 160seitige auf schlechtem Papier gedruckte Büchlein zum lächerlichen Preis von 1,75 Mark wurde zu einem der wertvollsten und wichtigsten meines Lebens. Es ist inzwischen von vielfältiger eigener Verwendung und Weitergabe so zerfleddert, dass man es ihm auch ansieht. 

Wir beschäftigten uns in diesen Jahren in der Junge-Gemeinde-Gruppe auch mit Lebensbildern von Friedensaktivisten wie Graf Folke Bernadotte, Kardinal Graf Galen, Mahatma Gandhi, Fridtjof Nansen, Alfred Nobel, Albert Schweitzer und Bertha von Suttner. Dafür war mir vor allem die aus Westdeutschland stammende Biographiensammlung „stärker als waffen“[3] sehr hilfreich.

Das alles war in diesen Jahren noch sehr ungewöhnlich, denn das Evangelische Jungmännerwerk und die Junge Gemeinde waren stark auf persönliche Glaubensfragen konzentriert. Gesellschaftlich-politische Fragen spielten kaum eine Rolle.

In dem Jungenkreis in Werdau, den ich leitete, pflegten wir ansonsten Freizeitaktivitäten wie Singen zur Gitarre, Wandern, Radfahren und suchten das Abenteuer. So sind wir beispielsweise einmal in einen stillgelegten Schacht des Bergbauunternehmens Wismut (Produzent von Uran) eingedrungen und haben in 144 m Tiefe die Stollen erkundet. In Rüstzeitenheimen der Jungen Gemeinde, vor allem im Heim unserer Ephorie Werdau in Lauenhain, trafen wir uns an Wochenenden und in den Ferien. 

Im Rüstzeitenheim Lauenhain initiierte ich im September 1966 eine Mitarbeiter-Wochenendrüstzeit mit 19 Teilnehmern zu dem Thema „Was können wir für den Frieden tun?“. Der Mitarbeiterkreis der Jungen Gemeinde bestand aus Ehrenamtlichen, die sich von Zeit zu Zeit zum Austausch und zur gegenseitigen Bestärkung trafen und von hauptamtlichen Jugendmitarbeitern angeleitet wurden.

Meine Wehrdienstverweigerung

Im Januar 1962 wurde in der DDR die Wehrpflicht eingeführt (in der BRD schon 1956). Ich wurde als einer der ersten zur Wehrerfassung vorgeladen, die noch die Volkspolizei (VP) durchführte, und zwar im Kulturhaus „Pleißental“ in Werdau. Jeder hatte drei Passbilder mitzubringen. Da ich nur noch zwei besaß und zu knauserig war, nochmals welche zu bestellen, übergab ich nur die beiden mit der Bemerkung: „Bei mir werden Sie nur zwei Passbilder brauchen“. Ich hatte nämlich am 17. Februar 1962 per Einschreiben einen zweiseitigen Brief an die Musterungskommission geschickt, worin ich den Wehrdienst mit der Waffe verweigerte. Die VP bemerkte, dass sie nur die Erfassung durchführe. Ich solle mich dann an die Musterungskommission der Nationalen Volksarmee (NVA) wenden.

In meinem Schreiben war mir wichtig, nicht nur religiöse Gründe anzugeben, die vielleicht am ehesten toleriert worden wären, sondern auch pazifistische und humanistische.

„Hiermit erkläre ich, dass ich als Christ und Pazifist den aktiven Wehr-, Kriegs-, und Reservistendienst sowie die Arbeit in der Rüstungsindustrie oder anderen kriegswichtigen Ausweichdienst aus Glaubens- und Gewissensgründen verweigere.
Dabei berufe ich mich auf Artikel 41 unserer demokratischen Verfassung, in dem es heißt: „Jeder Bürger genießt volle Glaubens- und Gewissensfreiheit“ und auf die Charta der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Allerdings bin ich befremdet darüber, dass in dem Gesetz über die Allgemeine Wehrpflicht in der DDR bis jetzt noch kein Paragraph besteht, der die Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen irgendwie schützt, obwohl der Artikel 41 unserer Verfassung bis jetzt nicht außer Kraft gesetzt worden ist.
Ich betone ausdrücklich, dass ich zu meiner wie folgt dargelegten Einstellung unabhängig von meinem Elternhaus gekommen bin.

1. Meine christlichen Gründe
Ich kann es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, andere Menschen direkt oder indirekt zu töten oder irgendwelche Handlangerdienste dazu zu tun, denn ich nehme das 5. Gebot Gottes ernst, das heißt: „Du sollst nicht töten“ (2. Mose 20,13; Matth. 5,21).
Den Kriegsfall sehe ich dabei nicht für eine Ausnahme an.
Ich fühle mich gebunden an die Worte von Jesus Christus, der gesagt hat:
„Glücklich zu preisen, die Frieden stiften, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden“ (Matth. 5,9);
„Liebet eure Feinde“ (Matth. 5,44);
„Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen.“ (Matth. 26,52);
„Eine neue Weisung gebe ich euch. Habt euch untereinander lieb, so wie ich euch liebgehabt habe, so sollt ihr euch untereinander liebhaben. Daran sollen alle Menschen erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr rechte Liebe untereinander habt“ (Joh. 13,34-35).
Seinen Mitmenschen lieben und ihn gleichzeitig töten, lässt sich nicht miteinander vereinbaren. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Wehrpflicht ein Gesetz ist.
Ich kenne sehr wohl den Satz, der in Römer 13,1 steht: „Jeder einzelne ordne sich den übergeordneten Gewalten unter. Aber in Apg. 5,29 heißt es: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“. Wo also, wie hier, ein weltliches Gesetz dem Gebot Gottes entgegensteht, habe ich als Christ die Freiheit, „nein“ zu sagen. Meine Verantwortung vor Gott und meinen Mitmenschen kann mir der Staat nicht abnehmen.

2. Meine pazifistischen und humanistischen Gründe
Meiner Meinung nach gibt es heute keine gerechten Kriege mehr, denn ein moderner Krieg ist Massenvernichtung. Die Anwendung von atomaren, biologischen und chemischen Kampfmitteln, ja auch der heute vorhandenen konventionellen Waffen, ist Massenmord. Durch sie werden in jedem Fall auch in einem sogenannten Verteidigungskrieg unzählige unschuldige Menschen getötet. Deshalb sehe ich den modernen Krieg nicht mehr als Möglichkeit zur Lösung internationaler Konflikte und werde mich deshalb nie an einem Krieg beteiligen.
Es gibt in unserer Zeit außerdem keine Möglichkeit mehr für die Bevölkerung, zu erkennen, wer der wirkliche Angreifer ist. Ich möchte dabei als Beispiel aus der Geschichte nur den „Überfall auf den Sender Gleiwitz“ nennen. Nach außen hin war Polen der Aggressor. In Wirklichkeit war es Deutschland. Deutschland ist nicht das einzige Land, das sich schon in der Vergangenheit solcher Mittel bedient hat, um einen Anlass zum Überfall auf andere Länder zu haben. Heute ist die Gefahr solcher Täuschungsmanöver gegenüber der Bevölkerung durch geschickte Propaganda, provozierte Grenzzwischenfälle usw. noch viel größer. Kein Staat wird im eventuellen Kriegsfalle zugeben, „angefangen“ zu haben.
Ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit ist der Streit um West-Neuguinea. Jeder der beiden Staaten, Indonesien und die Niederlande, behauptet steif und fest, der Zwischenfall habe sich in   s e i n e n   Hoheitsgewässern zugetragen.
Die Völker haben sich noch nie den Krieg erklärt, nur die Regierungen. Ein Befehl (und die nötige Hetzpropaganda) macht im Krieg Menschen zu Feinden, die gar keine sind. Ein Befehl könnte sie zu Freunden machen. Weshalb hat nicht jeder friedliebende Staat neben dem Kriegs- oder wie es jetzt genannt wird, Verteidigungsministerium, ein Friedensministerium?
Deutschland hat den 1. Weltkrieg begonnen, Deutschland hat den 2. Weltkrieg begonnen. Jedesmal geschah das unter ausdrücklichen Friedensbeteuerungen und als „Verteidigung der Heimat“. Ich will mich nicht an einem eventuellen 3. Weltkrieg mitschuldig machen.
Der „unbedingte Gehorsam“ hat das deutsche Volk schon oft genug zu blinden Befehlsempfängern gemacht und damit sich und andere Völker in furchtbares Elend gestürzt. Deshalb kann ich mich nicht im Fahneneid der NVA auf diesen unbedingten Gehorsam verpflichten lassen.
Ich sehe als einzige mögliche Zukunft der Menschheit die friedliche Koexistenz auf der Grundlage der kontrollierten und totalen Abrüstung, bzw., wenn sich darüber die Regierungen nicht einigen können, die Kriegsdienstverweigerung der Völker, die ja sowieso alle den Frieden wollen, sodass Kriege praktisch „mangels Beteiligung ausfallen“ müssten. Ich stütze mich dabei auf die Prophezeiung des Alten Testamentes (Jes. 2,4), in der es heißt: „Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Lanzenspitzen zu Winzermessern. Kein Volk wird noch gegen ein anderes Volk das Schwert erheben, und sie werden sich hinfort nicht mehr auf Kriege einüben.“
Diese meine Darlegungen dürften hinreichend klarstellen, dass ich den Wehrdienst nicht aus staatsfeindlichen Gründen, aus persönlichen Nützlichkeitserwägungen heraus oder aus Feigheit verweigere.
Ich bin, um zu beweisen, dass ich dem Staat nicht schaden will, dazu bereit, einen Ersatzdienst (z.B. in Form von Dienst in sozialen und karitativen Einrichtungen, Arbeit in der Landwirtschaft, Aufbauarbeit) abzuleisten.

Werdau, am 17.2.1962                            (gez.) Georg Meusel“
[4] 


Ich hatte mich für die Verweigerung des Wehrdienstes allein, ohne Unterstützung durch andere, entschieden und auch meinen Verweigerungstext allein aufgesetzt. Natürlich erzählte ich meinen Eltern davon und zeigte ihnen meinen Brief. Sie haben mir trotz aller Ungewissheiten nicht abgeraten. Da es keine legale Ausweichmöglichkeit gab und für Wehrdienstverweigerung Haftstrafen angedroht waren, musste ich mit Gefängnis rechnen. Doch die Gewissensentscheidung hatte für mich Vorrang.

Die Musterung fand im Sportlerheim „An den Teichen“ statt. Zunächst musste ich zum Musterungsarzt. Der wunderte sich, weil ich sehr dürr war, dass das Gerät, in welches ich blasen musste, ein so hohes Lungenvolumen und entsprechenden Druck zustande brachte. Ich sagte: „Das ist meine Bläserlunge als Trompetenspieler“, was eine gewisse Erheiterung auslöste. Vor der Musterungskommission war mir eher bang, weil ich eine harte Diskussion befürchtete.

Nach Abschluss der medizinischen Untersuchungen erklärte mir der Leiter der Musterungskommission:

„Wir haben ihr Schreiben zur Kenntnis genommen. Doch unsere Gesetze gelten auch für Sie. Sie sind für den Dienst in der Nationalen Volksarmee geeignet und vorgesehen und sollen in einer motorisierten Schützeneinheit eingesetzt werden. Wann Sie einberufen werden, steht noch nicht fest. Wenn wir Sie brauchen, bekommen Sie den Einberufungsbefehl zugeschickt“.

Er fragte mich, ob ich noch etwas dazu zu sagen hätte. Ich verneinte dies und verwies auf meine schriftliche Begründung.

Ich fühlte mich zunächst erleichtert, dass es nicht zu einer harten Konfrontation und massiven Drohungen gekommen war. Andererseits war meine Ungewissheit groß, denn das Wehrpflichtgesetz sah Gefängnisstrafen vor, wenn man der Einberufung nicht Folge leistete. 
Eine legale Alternative zum bewaffneten Wehrdienst gab es noch nicht. Doch ich kam nicht ins Gefängnis, sondern wurde stillschweigend übergangen, als meine Jahrgangsgenossen schon kurz darauf einrücken mussten. 

Herr Martin Niem antwortet: Westpazifist hilft Ostpazifisten

Jung wie ich war und auf der Suche nach Vorbildern, wünschte ich, auf klare Fragen klare Antworten zu erhalten.

Am Tag meiner Wehrdienstverweigerung hatte ich an Kirchenpräsident Martin Niemöller in Wiesbaden geschrieben. Damit mein Brief nicht auffällt und abgefangen wird, gab ich als Adresse an: "Herrn Martin Niem".

Das wollte ich nun doch wissen, ob der von mir geschätzte, aber als DDR-freundlich geltende westdeutsche Kirchenmann, Eiferer gegen Wehrpflicht und Militärseelsorge in der BRD, sich auch im Falle DDR dazu bekennen würde.

Die Deutsche Bundespost hat meine eigenartig verschlüsselte Adressierung doch enträtselt und den Brief an Niemöller zugestellt. Schon nach reichlich einer Woche bekam ich Antwort von Niemöller, was mich riesig freute.[5]

Niemöller hat mich nicht enttäuscht. Seinen Brief an mich verbreiteten wir dann in Abschriften nicht nur unter Pfarrern und Kirchenleitung, sondern vor allem in den Jungen Gemeinden und auf dem Mitarbeitertag des Jungmännerwerkes von Westsachsen in Zwickau. Dort machte mir ein Teilnehmer meine Dummheit bewusst, wie ich, auch noch als Philatelist, den Briefumschlag als postalischen Beleg wegschmeißen konnte.

Der frühere U-Boot-Kommandant und spätere Antifaschist und westdeutsche Pazifist Kirchenpräsident Martin Niemöller, obwohl er mit dem Osten sympathisierte, ermutigte nach Einführung der Wehrpflicht in der DDR 1962 auch die dortigen Wehrdienstverweigerer.

„...Wir sind ... darauf aus, den Kriegsdienstverweigerern auch im Gebiet der DDR einen Schutz zu verschaffen ... Für mich heisst Kriegsdienst bzw. Wehrdienst ohne weiteres Verleugnung des christlichen Glaubens ... Wer an Jesus ... glaubt, der muss sich die Frage vorlegen, ob Jesus in den militärischen Verbänden mitmarschiert oder nicht.“


Meine Mutter hatte mir für den Fall, dass mein Vater nicht aus dem Krieg zurückkäme, dessen Vornamen „Georg“ gegeben. Das führte später bei Behörden u.ä. hin und wieder zu Verwechslungen, auch bei der Staatssicherheit. Wie schon mein Protest gegen das Kirchentagsverbot 1961 für Ost-Berlin, war auch meine Korrespondenz mit Niemöller meinem Vater zugeschrieben worden, wie die Stasi-Akten zeigen. Das hängt vermutlich auch damit zusammen, dass sich die Befehlsempfänger des Mielke-Ministeriums nicht vorstellen konnten, dass ein einfacher junger Arbeiter aus einem Volkseigenen Industriebetrieb sich ohne Auftraggeber von sich aus für christliche oder kirchliche Belange einsetzt.

Die Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS-KD) Werdau schreibt im April 1962:

 „Nach wie vor sind kirchliche Kreise bemüht, eine Begründung für Wehrdienstverweigerung zu erarbeiten. Pfarrer Meusel, Werdau, schrieb zu diesem Zweck an Kirchenpräs. Niemöller, mit der Bitte um Stellungnahme zur Wehrpflicht. N. hat darauf in einem persönlichen Schreiben an Pfarrer Meusel geantwortet, dass er gegen den Kriegsdienst in Ost- und Westdeutschland sei. Die Wehrdienstverweigerung entspräche seinen Ansichten usw. Seitens der Pfarrer will man diesen Brief im grösseren Stil in negativer Hinsicht auswerten. Zwischenzeitlich haben die Pfarrer die Kirchenvorstände orientiert. Meusel war mit diesem Brief bei der Landeskirche in Dresden. Verschiedene Pfarrer äußerten, dass die DDR Niemöller nun sicher fallen lasse. Seitens der Pfarrer hat man die Absicht, diesen Brief bei der nächsten Zusammenkunft der Pfarrer mit Funktionären des Rates der Stadt Crimmitschau vorzutragen, um die Staatsfunktionäre in Verlegenheit zu bringen“. [6] 


In der Tat haben sowohl ich als auch mein Vater den Niemöller-Brief mit vielen Durchschlägen abgetippt und in christlichen Kreisen zur Stärkung von Wehrdienst-Kritikern weiterverbreitet.

Die Bausoldaten der DDR

1964 wurden für Wehrpflichtige, die „aus religiösen Anschauungen oder aus ähnlichen Gründen den Wehrdienst mit der Waffe ablehnen“ [7],  die Baueinheiten gegründet. Ich wusste damals nicht, dass es bis dahin etwa 1550 Wehrdienstverweigerer gegeben hatte und deshalb die interne Militärführung nach einer Lösung dafür gesucht hatte, nicht etwa auf Druck oder Vermittlung der Kirche, wie oft behauptet.

Etwa 1965 wurde ich zum Wehrkreiskommando im Kreisgericht bestellt und sollte meinen Wehrpass, der zu meiner Zeit noch nicht gleich nach der Musterung vergeben wurde, ausgehändigt bekommen. Ich hatte von anderen Verweigerern gehört, dass bei einigen von ihnen militärische Waffengattungen eingetragen worden waren. Als ich den Empfang meines Wehrpasses quittieren sollte, verlangte ich daher, ihn erst einmal zu sehen. Als ich ihn durchblätterte, war tatsächlich eingetragen: „Waffengattung Motorisierte Schützeneinheit“. Ich bat den Offizier, die Eintragung zu berichtigen, weil doch aufgrund des neuen Gesetzes bei mir „Baueinheit“ stehen müsste. Der Mann meinte, die Eintragung stamme noch von früher und sei nicht von Bedeutung. Ich erklärte, wenn ich den Wehrpass jetzt bekäme, müsse er dem neuesten Stand entsprechen. Entweder solle er die Eintragung ändern oder ich nähme den Wehrpass nicht in Empfang. Er sagte, er könne die Eintragung nicht ändern. Das dürfe nur die Musterungskommission, nachdem ich vorher noch mal gemustert werden müsste. Wir wurden uns nicht einig. Er berichtigte die Eintragung nicht. Ich unterschrieb nicht und nahm den Wehrpass nicht in Empfang. 

Vermutlich wollte die NVA in ihrer Statistik die Zahl der Bausoldaten niedrig halten und änderte deshalb bei Verweigerern, die noch nicht einberufen wurden, die Eintragung militärischer Waffengattungen nicht. Mir ist kein Fall bekannt geworden, wonach ein Verweigerer aufgrund einer solchen nicht berichtigten Eintragung zum Waffendienst gezwungen worden wäre.

In den Folgejahren wurde ich noch wiederholt nachgemustert, jedesmal aus gesundheitlichen Gründen zurückgestellt, zuletzt aus gesundheitlichen Gründen ausgemustert, obwohl es mir gesundheitlich nicht so schlecht ging, dass ich untauglich gewesen wäre.
  
Welche Krankheit intern eingetragen war, erfuhr ich nicht. Einen Wehrpass habe ich nie erhalten. Ich wäre nach Schaffung der Baueinheiten bereit gewesen, den Kompromiss des Bausoldatendienstes einzugehen. Entweder aber verstand das Wehrkreiskommando mein Verweigerungsschreiben als Totalverweigerung, die es im Grunde auch war. Oder man wollte mich nicht haben aus Furcht, dass ich unter anderen Bausoldaten zum Rädelsführer werden könnte, weil ich inzwischen sehr aktiv in der Friedensbewegung war. Die DDR-Wehrdienstverweigerer-Akten kamen nach Auflösung der NVA ins Archiv der Bundeswehr und wurden dort geschreddert. Dadurch ging ein wertvoller Dokumentenbestand unwiederbringlich verloren. So lassen sich auch die Überlegungen und das Verhalten der NVA mir gegenüber nicht mehr rekonstruieren.

Als der Zwickauer Ephoraljugendpfarrer (Bezirksjugendpfarrer) die beiden ersten Bausoldaten aus unserer Region im Herbst 1964 am Abend vor dem Einrücken zur Verabschiedung zu sich in die Wohnung einlud, war ich dabei. 

Ich habe mich seit 1964 viel mit der Bausoldaten-Problematik befasst und einige junge Leute in der Jungen Gemeinde unserer Stadt auch diesbezüglich beraten. Zwei von ihnen wurden dann tatsächlich Bausoldaten. Einer hatte schon die Einberufung zu den bewaffneten Einheiten bekommen und wurde dann kurz vor knapp noch als Bausoldat anerkannt. Mit mehreren Bausoldaten korrespondierte ich während ihrer Dienstzeit. 

Mein Freund Hansjörg Weigel aus dem Nachbardorf Königswalde, ein Jahr jünger als ich, war 1966/1967 Bausoldat. In seiner Einheit gab es einige, die den Dienst als Zeichen für den Frieden sehr ernst nahmen, denen er aber als echter Friedensdienst und zeitlich zu wenig bedeutungsvoll war. Unter ihrem Motto „Bausoldat für’s ganze Leben“ engagierten sie sich dann für die Friedensarbeit. Hansjörg initiierte 1973 das Christliche Friedensseminar Königswalde, dessen Mitbegründer ich werden konnte. Es war das erste Friedensseminar in der DDR.

Dass ich selbst nicht Bausoldat war, bedaure ich einerseits vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen, aber auch des Miteinanders in einer solchen Einheit, die ich gern auch erfahren hätte. Andererseits hätte der 18monatige Bausoldatendienst, wenn ich erst nach unserer Heirat 1966 einberufen worden wäre, meine Frau und dann auch unsere Kinder schwer beeinträchtigt und belastet. 

Die Verweigerung war nur eine Facette meines Einsatzes für Frieden und Gewaltfreiheit. 

Ich hatte ja, siehe oben, schon vorher und dann im weiteren zeitlichen Verlauf in der Jungen Gemeinde diese Thematik eingebracht. Weiter gehörte ich zu den ersten „Mitgliedern“ von Aktion Sühnezeichen DDR. 

Nach der Ermordung Martin Luther Kings 1968 baute ich ein philatelistisches Exponat unter dem Titel „Martin Luther King – gewaltloser Kampf gegen Unterdrückung und Krieg“ auf, das auf zahlreichen Ausstellungen innerhalb der DDR, zu Weltausstellungen in Poznan und Prag und zu einer Freundschaftsausstellung in Wolgograd vor Tausenden Besuchern gezeigt wurde. 

1973 rief ich gemeinsam mit dem Hauptinitiator Hans-Jörg Weigel und anderen das Christliche Friedensseminar Königswalde ins Leben, bei dem sich später an manchen Wochenenden bis zu 600 Teilnehmer trafen. Ich hielt bei ganz verschiedenen Zielgruppen Vorträge über die Gewaltfreie Aktion. Mein philatelistisches Hobby nutzte ich zur Gestaltung weiterer Exponate zur Thematik: „Stimme der Völker gegen den Krieg – Die Friedensbewegung“, „Mit dem goldenen Spaten – Die Bausoldaten der DDR“ und „Koexistenz – Proexistenz“. Zum Kirchentag in Leipzig 1978 brachte ich das sowjetische Schwerter-zu-Pflugscharen-Symbol in Umlauf, das 1980 zum Symbol der Friedensdekade und 1981 mit den danach gestalteten Flies-Aufnähern für Tausende Jugendliche zum Politikum wurde. 

Nach vierjährigen Bemühungen konnte ich 1987 den großen Martin-Luther-King-Dokumentarfilm „… dann war mein Leben nicht umsonst“ in der DDR in Umlauf bringen, der bis zur Friedlichen Revolution 1989 in knapp 140 Vorführungen mehr als 10.000 Zuschauer erreichte. 

Meine Frau Erika hat meine Friedensaktivitäten, obwohl sie manchmal für mich und unsere Familie gefährlich waren und manche Benachteiligung oder Repression mit sich brachten, immer mitgetragen und zu mir gestanden. Ich durfte nicht studieren, machte als Lager- und Transportarbeiter und als Elektroschweißer schwere und gesundheitsschädliche Arbeiten und blieb auch später als Elektromonteur einfacher Arbeiter. Unsere Kinder, bis auf die Jüngste, durften kein Abitur ablegen. Im Wohnumfeld wurden wir zum großen Teil gemieden, weil die Nachbarn Angst hatten, dass sie dann mit uns identifiziert werden könnten. 

Mein Friedensengagement war oft eine Gratwanderung, wobei ich in einer „kalkulierten Leidensbereitschaft“ kaum riskante Aktionen machte. 

Zweimal wurde es jedoch kritisch. Im August 1968 löste ich nach dem Einmarsch der Warschauer-Vertrags-Truppen in der CSSR zur Niederschlagung des Prager Frühlings aus meiner Empörung heraus in unserem Betrieb aus Protest die Alarmsirene aus. Ich blieb aber unentdeckt. 

Gerhard Voigt aus der DDR hatte 1981 für einen Plakatwettbewerb der UNO eine Grafik gestaltet, die einen schwarzen Mann zeigt, der, schützend vor grünem Globus stehend, sein Gewehr zerbricht. Das Motiv wurde von der UNO preisgekrönt, doch innerhalb der DDR bald quasi verboten. Ich wollte dieses mich begeisternde Abrüstungssymbol in großer Stückzahl unter die Leute bringen. Doch meine Druckgenehmigung wurde widerrufen, versehentlich aber nicht eingezogen. Nachdem ich anderenorts mit der ungültigen Genehmigung 7000 Postkarten und Briefumschläge mit dem Symbol bedrucken ließ, flog ich auf. Ich wurde dreimal von Offizieren der Staatssicherheit festgenommen und jeweils bis zu sieben Stunden verhört. Die Druckerzeugnisse wurden beschlagnahmt und die Stasi drohte mir ein Strafverfahren an. Durch die Fürsprache von Bischof Johannes Hempel ist mir das Schlimmste erspart geblieben.

In der Rückschau kann ich nur sagen, dass mir die Solidarität von Freunden und meiner Familie, schließlich auch Glaube und Gottvertrauen, geholfen haben, diese bewegende Zeit und mein Engagement für den Frieden durchzustehen. Aus heutiger Sicht hätte ich in der DDR mehr Zeit meiner Partnerschaft und Familie zuwenden sollen. 

Heute setze ich mich nach wie vor für Gerechtigkeit, Gewaltfreiheit und Frieden ein. Wenn sich auch die gesellschaftlichen Bedingungen geändert haben, so ist doch nach dem hoffnungsvollen Jahr der Entspannung 1990 die Bedrohung erneut angewachsen und die Dringlichkeit, sich zu engagieren, geblieben. 
 

Anmerkungen:
[1] Albrecht Goes, Unruhige Nacht, Friedrich Wittig Verlag Hamburg 1954, UNION-Verlag Berlin/DDR 1955. 

[2] Wolfgang Borchert – Auswahl, Verlag für fremdsprachige Literatur Moskau, 1961. 

[3] Reinhard Schmoeckel, „stärker als waffen“, HOCH-Verlag Düsseldorf 1957, Auflage von 1963.  

[4] Brief von Georg Meusel an Wehrkreiskommando Werdau, 17.02.1962. 

[5] Kirchenpräsident D. Martin Niemöller, Brief an Georg Meusel, Wiesbaden 26.02.1962. 

[6] ZMA Werdau 587, Georg Meusel sr., BStU 015, 12.04.1962. 

[7] Anordnung des Nationalen Verteidigungsrates der DDR über die Aufstellung von Baueinheiten im Bereich des Ministeriums für Nationale Verteidigung, Gbl. I/11/1964, § 4, 07.09.1964. 

(20.03.2021)

Georg "Schorsch" Meusel, wohnhaft in Werdau im sächsischen Landkreis Zwickau. Er wurde1942 als Sohn eines Pfarrers geboren und musste aus ideologischen Gründen nach der 8. Klasse die Schule verlassen, arbeitete u.a. als Gärtner, Lager- und Transportarbeiter und Elektromonteur; seit 1961 von der Stasi bearbeitet, 1962 Wehrdienstverweigerung. 1973 rief er das Christliche Friedensseminar Königswalde mit ins Leben, eine jener Quellen, aus der sich 1980 die "Schwerter-zu-Pflugscharen"- Bewegung entwickelte. Die Stasi legte unter dem Kennwort "Marder" über ihn einen "Operativen Vorgang" an, der schließlich fast 2.500 Seiten umfasste. 1989 gehörte er zu den führenden Köpfen der Bürgerbewegung seiner Stadt, in der während der Friedlichen Revolution im Dezember 1989 noch vor Berlin ein "Runder Tisch" einberufen und im Januar 1990 die erste SED-unabhängige Zeitung in Sachsen herausgegeben wurde. Schorsch Meusel war Hauptinitiator des 1998 ins Leben gegründeten Martin-Luther-King-Zentrums für Gewaltfreiheit und Zivilcourage e.V. in Werdau, dessen Vorsitzender er bis 2012 war und seitdem Ehrenvorsitzender ist.