Thomas Krischer (geb. 1953): Meine Kriegsdienstverweigerung -
Eine Entscheidung: allein gegen die Mehrheit
Von Thomas Krischer
Vorgeschichte
Seit 1966 waren US-amerikanische Truppen immer stärker in den Vietnamkrieg verwickelt. Auch deren Heer bestand noch zu einem Großteil aus zum Militärdienst eingezogenen Zivilisten. Die Berichte von den Grausamkeiten des Krieges in Südostasien erreichten über die Medien die deutsche Bevölkerung direkt in den Wohnzimmern. Auch sicher deswegen nahm die Lust, den obligatorischen Wehrdienst zu absolvieren, unter den Jugendlichen und vor allem bei den Gymnasiasten eher ab.
Eine Gegenstrategie des Verteidigungsministeriums in Bonn war es deshalb, gezielt Offiziere für die Diskussion mit kritischen Schülern auszubilden und diese in die Schulen, insbesondere in die Oberstufen der Gymnasien, zu schicken. Sie sollten den gesetzlichen Auftrag der Bundeswehr vorstellen und somit mittelbar und unmittelbar für den Wehrdienst werben. So erschien im Schuljahr 1971/72, dem Jahr mit den Vorbereitungen auf mein Abitur, eines Tages ein Offizier der Bundeswehr in Uniform während der offiziellen Unterrichtsstunden auch in der Oberstufe des damaligen Progymnasiums Plochingen.[1] Dieser trat äußerst defensiv auf, was schon seine einleitende Formulierung andeutete: „Ich weiß, die meisten von Ihnen werden sicher gegen mich sein“. Dann spulte er sein Programm ab: Wehrauftrag der Bundeswehr, außenpolitische Situation der BRD, innere Regeln und Möglichkeiten, als „Soldat auf Zeit“ gegen reguläres Gehalt bei der Bundeswehr angestellt zu sein. Als besonderes Lockmittel gab es auch noch die Möglichkeit, „beim Bund“ zu studieren.
Bis dahin hatte ich mir noch keine eigene Meinung über die Bundeswehr und den Wehrdienst gemacht. Der Vortrag des Offiziers wirkte auf mich eher wie eine mühsame Pflichtveranstaltung ohne Ausstrahlung auf die Zuhörer, die defensive Haltung des Referenten eher befremdlich.
Dieser Auftritt löste aber eine Gegenreaktion beim Klassensprecher meiner Parallelklasse aus. Dieser forderte von der Schulverwaltung, als Ausgleich einen Vertreter eines Verbandes einzuladen, der diejenigen unterstützt, die den Kriegsdienst mit der Waffe verweigern wollen. Nur wenige Wochen später fand die entsprechende Veranstaltung statt, wiederum während der offiziellen Unterrichtszeiten.
Der Repräsentant der Deutschen Friedensgesellschaft – Internationale der Kriegsdienstgegner (DFG-IdK)[2] war zeit- und jugendgemäß gekleidet und trat eher kumpelhaft auf. Bei seiner persönlichen Vorstellung erwähnte er, dass sein Vater in der Zeit des Nationalsozialismus Mitglied der „Bekennenden Kirche“[3] gewesen war und gab somit einen Hinweis darauf, dass es innerhalb seiner Familie eine Kontinuität in der Wahrnehmung von Bürgerrechten gegeben hatte. Tatsächlich gab es auch zu seinem Vortrag wenig Fragen und wenig Diskussion, so dass der Referent, auf der Suche nach einem Feedback, zu seinen Ausführungen am Ende an alle Zuhörer die Frage richtete: „Wer von Ihnen kann sich vorstellen, den Kriegsdienst aktiv zu verweigern?“
Ein Blick in die Runde zeigte: nur ein oder zwei Hände gingen zaghaft nach oben! Dann hatte also der Bundeswehroffizier mit seiner Einschätzung falsch gelegen, und die Mehrheit der Anwesenden war gar nicht prinzipiell gegen die Bundeswehr eingestellt? Oder zögerten die meisten, ihre Meinung öffentlich zu zeigen? An daran anschließende Diskussionen unter uns Schülern kann ich mich nicht erinnern.
Auch ich hatte mich nicht gemeldet und mir bisher noch keine ernsthaften Gedanken darüber gemacht. Obwohl mein Gerechtigkeitssinn mir in der Schulzeit während einer Feuerwehrübung beinahe die Strafe eines Rektoratsarrestes eingebracht hatte. Irgendwie muss genau in diesem Augenblick in meinem Inneren aber der Wille entstanden sein, zu verweigern. Sicher spielte auch mein Gefühl mit, zur Minderheit zu gehören: ich war fast das einzige „Arbeiterkind“ in meiner Schulklasse, in welcher die Mehrheit der Eltern der Mittelklasse angehörten und fast alle eine höhere Schulbildung besaßen. Schon in der Kindheit, beim Cowboy- und Indianerspiel, hatte ich meine Rolle immer im Lager der unterdrückten Rothäute gesehen, die ja langfristig von den Weißen besiegt wurden.
Die Verweigerung
Meine Entscheidung, den 18-monatigen Kriegsdienst zu verweigern und dafür den Zivildienst zu absolvieren, sollte aber erst der Anfang eines nicht so einfachen und langen Prozesses sein. Und zunächst musste ich irgendwann mit meinen Eltern darüber sprechen und ihnen meine Absicht kundtun. Dabei stieß ich aber auf keine große Begeisterung, sondern eher auf eine vornehme Zurückhaltung. Es gab in meiner Familie keine Erfahrung, keine Praxis des Widerspruchs gegen die Mehrheitsmeinung oder gar gegen die sogenannte „Obrigkeit“. Sondern man hatte sich als braver Staatsbürger entsprechend dem Mainstream zu verhalten. Hier war also keine Unterstützung zu erwarten. Welche Möglichkeit blieb da, um zu mehr Information zu kommen?
Im Nachbarort Wernau gab es eine Beratungsstelle der katholischen Kirche, auch für Kriegsdienstverweigerer. Dort holte ich mir die erste Beratung in Form eines persönlichen Gesprächs mit einem Jugendpfarrer. Der nächste Schritt war die persönliche, schriftliche Erklärung an das zuständige Kreiswehrersatzamt, dass ich gewillt war, das Recht aus Artikel 4 Satz 3 des Grundgesetzes in Anspruch zu nehmen und den Wehrdienst mit der Waffe zu verweigern. Dieser Brief hatte zunächst aufschiebende Wirkung, was sehr wichtig war. Ich wurde also nicht, wie die anderen Klassenkameraden, zur Musterung eingeladen.
Vielmehr erhielt ich vom Kreiswehrersatzamt einen Brief mit der Mitteilung, dass ich vor einem Prüfungsausschuss zu erscheinen habe, welcher die Rechtmäßigkeit meines Anliegens überprüfen würde.
Dieser Einladung war bei Ankündigung von Strafe Folge zu leisten. Wenn die Eltern die Entscheidung des Sohnes befürworteten, konnten sie als sogenannter „Beistand“ des Antragstellers mit an der Sitzung teilnehmen. Das durfte aber auch ein Vertreter einer pazifistischen Organisation oder ein kirchlicher Vertreter sein. In meinem Fall kam ersteres nicht in Frage, und um weitere Unterstützung hatte ich mich selbst nicht gekümmert. Also wurde der Einladung Folge geleistet und ich reiste allein an.
Der Prüfungsausschuss
Im Gang waren einige Stühle für die Wartenden aufgestellt. Die Kandidaten wurden nacheinander aufgerufen. Ich war als Zweiter an der Reihe und fühlte mich etwas unsicher und verloren. Als der erste Kandidat gerade den Raum verließ, sah ich, dass er einen Erwachsenen als Beistand bei sich hatte. Ich wendete mich schnell an diesen, um ihn nach seiner Einschätzung der Beisitzer zu fragen. Er sagte mir, dass der rechtsaußensitzende Beisitzer des Prüfungsausschusses Mitglied der SPD sein müsste, da er als Parteiabzeichen einen kleinen roten Stecknadelkopf im Revers trug. Endlich hatte ich eine Orientierung. Ich trat ein und hinter dem breiten Tisch waren drei männliche Personen aufgereiht, die auf meine Aussage warteten.
In der Mitte saß der Beamte des Kreiswehrersatzamtes, der auch Protokoll führte, links von ihm ein ehrenamtliches Ausschussmitglied, welches als Hotelbesitzer vorgestellt wurde, und auf der rechten Seite ein Mitte dreißigjähriger Mann, bei dem man tatsächlich am Revers der Jacke einen klitzekleinen roten Stecknadelkopf erkennen konnte.[4] Meine Strategie war klar! Ich würde mich nur auf ihn konzentrieren. Und er half mir tatsächlich! Nach den vorausgegangenen fingierten Fangfragen des Vorsitzenden stellte er mir wörtlich und direkt die entscheidende Frage: „Können Sie töten?“ Meine Antwort kam kurz und entschlossen mit einem klaren und deutlichen „nein“, was auch so protokolliert wurde. Ich hatte die erste Hürde genommen.
Einige Wochen später erhielt ich tatsächlich den schriftlichen Bescheid, dass ich vom Prüfungsausschuss als Kriegsdienstverweigerer anerkannt worden war. Mit dem Dokument in der Hand, begann ich sofort mich auf die Suche nach einer Arbeitsstelle zu machen, bei der ich den zivilen “Ersatzdienst“ ableisten könnte. Die erste Station war schnell gefunden: die Jugendherberge in Esslingen auf dem Zollberg. Die Herbergseltern arbeiteten regelmäßig mit Zivildienstleistenden (Zivis). Mir selbst waren die Abläufe in einer Jugendherberge aus eigener Übernachtungspraxis ja bekannt und dazu war es noch heimatnah.
Gleichzeitig hatte ich mich aber auch bei weiteren Einrichtungen beworben und erhielt sogar eine Einladung, mich in Karlsruhe bei einer Wohlfahrtsorganisation vorzustellen, die dort ein oder zwei Jugendwohnheime betreute. Der damalige Leiter hieß Walter Ayass. Jahre später sollte er Spitzenfunktionen im Paritätischen Verband einnehmen und lange Zeit (1979-1991) sogar als Vorsitzender des Rundfunkrates beim Süddeutschen Rundfunk (SDR) fungieren. Im Jahr 2011 ist er in Karlsruhe verstorben.
Ich war fast geneigt, die sichere Stelle in der Jugendherberge sausen zu lassen und mich für die Stelle in Karlsruhe zu bewerben. Denn das hätte ein völlig neues, bisher unbekanntes Arbeitsfeld und einen Arbeitsort fern der Heimat bedeutet. Aber dann traf plötzlich ein amtliches Schreiben des Kreiswehrersatzamtes ein und stellte alles wieder auf Null zurück.
Denn darin stand die Mitteilung, dass genau dieses Amt Widerspruch gegen den Entscheid des Prüfungsausschusses erhoben hatte. Damals wurde häufig kolportiert, dass es angeblich inoffiziell eine Art „Quotenregelung“ gab. Wenn die Anerkennungsquote eine bestimmte Prozentzahl übertraf, musste die gewünschte Relation durch amtlichen Einspruch wiederhergestellt werden. Die Begründung lautete in meinem Fall, dass in dem Protokoll der Verhandlung der Charakter einer Gewissensentscheidung nicht eindeutig erkennbar gewesen wäre, sondern dass es sich in meinem Fall um eine politisch bewusste Erwägung und Entscheidung gehandelt hätte. Also hatten sich die Gerüchte um die Quoten bestätigt.
Für mich als Antragsteller bedeutete das, dass ich mich erneut einer Gewissensprüfung zu unterziehen hatte, diesmal vor einer höheren Instanz, der Prüfungskammer. Somit waren die Zusagen der Zivildienststellen obsolet und es hieß warten, bis die Einladung zu besagter Prüfungskammer eintraf.
Inzwischen hatte ich aber das Abitur erfolgreich abgeschlossen, wenn auch nur mit mittelmäßigem Notendurchschnitt, und es hieß, sich um einen Studienplatz zu bewerben. Als nach vier Bewerbungen mit der einzigen Zusage der Universität Freiburg im Breisgau dieser feststand, galt es noch, sinnvoll die Zwischenzeit bis zum Semesterbeginn im Oktober zu überbrücken. Über Vermittlung des Internationalen Arbeitsamtes in Frankfurt hatte ich eine Zusage für die Weinlese in Frankreich bekommen. Zielort war Macon im Rhonetal.
Nach so viel erfolgreich erledigter Bürokratie kam doch tatsächlich die Ladung zur Sitzung der Prüfungskammer mit einem Termin genau in der Woche, in der ich bei der Traubenernte arbeiten sollte. Also stellte ich rasch den Antrag auf Vertagung und diese wurde tatsächlich zeitnah gewährt.
Die nächste Einladung zur Prüfungskammer erreichte mich deshalb erst viel später, als ich mich schon im dritten Semester meines Soziologie- und Pädagogikstudiums befand, also ungefähr im Herbst 1973. Nun galt es, eine weitere Regelung in Anspruch zu nehmen. Hatte man ein Drittel der Ausbildung schon absolviert, so bewirkte das eine aufschiebende Wirkung bis zum Ende des Studiums. Der Stand meines Gewissens musste so noch längere Zeit ungeprüft verbleiben.
Inzwischen wuchsen in mir gesellschaftliche Kenntnisse und Widersprüche. Eine beispielhafte Aufzählung meiner Aktivitäten: aktives Engagement in der Fachschaft Pädagogik, Teilnahme an Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg und gegen den Putsch der Generäle in Chile gegen einen demokratisch gewählten Präsidenten. Studentenstreiks gegen die Einführung des Numerus Clausus in weiteren Studienfächern wurden organisiert. In der örtlichen Gruppe der Vereinigten Kriegsdienstgegner (VK) arbeiteten wir an einem Papier zum geplanten Zusammenschluss mit der DFG/IdK, welcher dann 1974 erfolgreich vollzogen wurde. Unter uns antimilitaristisch eingestellten Studenten wurde verstärkt diskutiert, anstatt zu verweigern, sei es sinnvoller, aktive Arbeit innerhalb der Bundeswehr zu leisten.
Die Prüfungskammer
Erst in dieser Phase meines Lebens kam schließlich die Einladung zum Antreten vor der zweiten staatlichen Instanz zur Gewissensprüfung. Also hieß es, antreten vor die Prüfungskammer. Bereits vor der Sitzung war meine Entscheidung innerlich relativ klar gefallen. Falls ich keine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer erreichen sollte, würde ich eben zur Bundeswehr gehen und dort versuchen, die Verhältnisse „von innen“ aufzumischen, wie das in den politischen Gruppen diskutiert wurde. Ich trat deswegen relativ gelassen vor das Gremium. Das Kreiswehrersatzamt hatte offensichtlich mit seinem Widerspruch Recht gehabt: Meine Verweigerung war eher eine von der politischen Vernunft bestimmte, und keine vom Gewissen dominierte Entscheidung gewesen. Denn ich wollte die Gesellschaft ja eigentlich grundsätzlich - revolutionär - verändern.
Schon die Vita der zivilen ehrenamtlichen Beisitzer ließ kein gutes Urteil erwarten. Diesmal war offensichtlich kein aufrechter Sozialdemokrat unter ihnen. Immer wieder wurden die alten suggestiven Fragen gestellt: „Wenn in Ihrer Schule ein Mann mit Flammenwerfer auftaucht und die Schüler bedroht, würden Sie durch das Fenster eine Schreibmaschine auf ihn herabwerfen, um die Mitschüler zu retten?“ Das hieß de facto, einen „Schreibmaschinentotschlag“ in Kauf nehmen? Das Ergebnis musste zwangsläufig so oder so lauten: „keine Anerkennung, den Kriegsdienst aus Gewissensgründen zu verweigern.“ Dem mündlichen Urteil folgte der schriftliche Bescheid.
Als nächste Instanz wäre eine Klage vor dem Verwaltungsgericht möglich und notwendig gewesen. Doch ich verzichtete darauf. Für mich stand inzwischen im Vordergrund, dass es wichtiger wäre, diese Klassengesellschaft insgesamt zu verändern.
Inzwischen sah ich beruflich und politisch immer weniger eine Perspektive darin, mein Studium fortzusetzen. Ich wollte etwas Praktisches machen und einen Einblick in die reale Arbeits- und Lebenswelt gewinnen. Auf der Suche nach einer Lehrstelle wurde ich in Esslingen bei der Pressenfabrik „Fritz Müller“ fündig. Im Frühjahr 1974 begann meine Ausbildung zum Maschinenschlosser (mit Abitur). Das war damals in der BRD noch relativ ungewöhnlich, währenddessen in der DDR eine Berufsausbildung mit gleichzeitigem Abitur in der EOS[5] eine häufige Sache war.
Auch nun galt die Regel, dass man während der Ausbildungsdauer nicht zum Wehrdienst eingezogen werden sollte, um das Ziel eines erfolgreichen Abschlusses nicht zu gefährden. Bei mir fiel diese zudem sehr kurz aus, da mir wegen des Abiturs ein Jahr, und anschließend wegen guter Noten, ein weiteres halbes Jahr Lehrzeitverkürzung zugestanden wurde.
Nach erfolgreicher Abschlussprüfung und Beschäftigungszusage durch die Pressenbaufirma ging ich zusammen mit meiner damaligen Partnerin, daran einen gemeinsamen Haushalt zu gründen. Inzwischen war seit meiner Erklärung, den Wehrdienst mit der Waffe zu verweigern, bereits einige Zeit ins Land gegangen. Und es fehlte nur noch ein entscheidender Baustein auf dem Weg zur Einberufung.
Die Musterung
Der Brief mit der Einladung zur Musterung war wieder ein hoch offizielles behördliches Schreiben. Es erreichte mich somit über drei Jahre später als meine früheren Klassenkameraden. Mit der Musterung sollte zunächst festgestellt werden, ob der Kandidat überhaupt „wehrdienstfähig“ war. Es gab drei sogenannte Tauglichkeitsgrade: „wehrdienstfähig“ – „vorübergehend nicht wehrdienstfähig“ – „nicht wehrdienstfähig“. Darüber hinaus wurde die Eignung der Kandidaten für die verschiedenen Waffengattungen mit entsprechenden Ausschlusskriterien geklärt. Das Amt hatte seinen Sitz in der Landeshauptstadt Stuttgart.
Es war ein heißer Vormittag in einem barackenähnlichen Gebäude. Dort fanden verschiedene Gespräche und Tests statt. Die Nichteignung für die Luftwaffe war wegen zahlreicher Amalgamfüllungen in meinem Gebiss bereits festgestellt. Bei der Morseübung war ich viel zu langsam gewesen. Damit dürfte auch ein möglicher Einsatz in der Nachrichtenkompanie weggefallen sein. Nach weiteren individuellen Prüfungen und der dazu gehörigen medizinischen Leibesvisitation wurden alle Kandidaten gemeinsam in einen großen Raum geordert.
Der Raum war möbliert wie ein Klassenzimmer. Die meisten anderen jungen Männer im Raum hatten gerade erst die Schule oder Ausbildung beendet, während ich in der Zwischenzeit gelernt hatte, wie man einen kleinen Uni-Streik organisiert oder wie man bei der Weinlese kollektiv seine Interessen gegen einen Arbeitgeber durchsetzen kann, und ich hatte an der Uni an etlichen Demonstrationen teilgenommen. Außerdem war ich Mitglied der Industriegewerkschaft Metall (IGM). Ich kam mir also älter und erfahrener vor, als der Trupp der Jungspunte um mich herum.
Vor uns tanzte ein Marineoffizier herum und gab uns ein Aufsatzthema vor: „Schreiben Sie in kurzen Worten auf, was Ihnen in Ihrem Leben, Ihrer Schulzeit, bisher nicht gefallen hat.“ Die Reaktion: Alle saßen zögernd und staunend da und schauten sich gegenseitig an. Kein einziger ergriff den Stift. Wir alle ahnten insgeheim, dass man aus unserem Innersten etwas herauslocken wollte, das später gegen uns ausgelegt werden könnte.
Immer noch Ruhe im Raum, aber die Spannung stieg. Das Gesicht des Marineoffiziers in seiner schönen Uniform lief rot an. Er ging hastig hin und her und durch die Reihen. Man spürte ein Knistern in der Luft. Und dann kam die Drohung: „Wenn Sie sich weigern, etwas zu schreiben, wird das Konsequenzen haben!!“
Langsam bröckelte die Ablehnungsfront und auch ich schrieb ein paar Zeilen. Während ich dies aufschreibe, muss ich mich heute aber fragen: Wenn ich bereits diesem kleinen Druck nicht standhalten konnte, was wäre dann wohl aus meinem antimilitaristischen Widerstandswillen bei der Truppe geworden? Wahrscheinlich hätte ich dort auch der Zermürbungstaktik nachgeben müssen. Ich war schließlich nicht zum Helden geboren.
Doch es sollte völlig anders kommen.
Ende gut – alles gut?
Das junge Paar, bestehend aus der Lehramtsstudentin an der Pädagogischen Hochschule (PH) in Esslingen und dem gerade frisch ausgelernten Maschinenschlosser bei der Pressenfabrik, bezog gemeinsam eine Erdgeschosswohnung in der Innenstadt. Die PH befand sich damals noch in Fußnähe. Das Industriegebiet in Oberesslingen war mit dem Oberleitungsbus[6] in 20 Minuten erreichbar. Gemüse und Obst gab es beim Griechen auf der anderen Straßenseite. Miete und Nebenkosten waren gut finanzierbar mit dem Tarifgehalt eines Facharbeiters in der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württembergs.
Sollte dieses Einkommen wegen Einberufung zum Militärdienst wegfallen, würde es dagegen schon schlechter aussehen. Doch dafür gab es eine gangbare Lösung. Bei verheirateten Pflichtsoldaten musste die Bundeswehr die Miete während der Pflichtdienstzeit übernehmen und für die Ehefrau sogar noch Unterhaltsgeld leisten. Also wurden – ohne Rücksprachen mit unseren Elternfamilien – die für eine Heirat notwendigen Papiere beschafft. Das war eine ganze Menge!
Die Bürokratie war geschafft, geheiratet werden sollte tatsächlich aber erst dann, wenn die Einberufung zum Wehrdienst kurz bevorstand. Diese erfolgte damals quartalsweise, also im Abstand von drei Monaten. Also hieß es, beim Kreiswehrersatzamt anzufragen und rechtzeitig die entsprechende Auskunft einzuholen.
Die einzige öffentliche Telefonkabine in der Pressenfabrik Fritz Müller stand im Erdgeschoss in einem Gang direkt vor dem Personalbüro. Dadurch war deren intensive Nutzung schon ziemlich ausgeschlossen. Denn der Nutzer oder die Nutzerin hatte permanent das Milchglas der Eingangstür vor Augen, hinter welcher der Personalchef seinen Sitz hatte. Und dieser konnte jeden Augenblick plötzlich heraustreten.
Doch um finanzielle Engpässe in der Zukunft zu vermeiden, war die Auskunft zwingend notwendig. Ich wählte die Nummer auf dem amtlichen Schreiben des Kreiswehrersatzamtes an, das Freizeichen ertönte. Es folgte die Namensmeldung und meine entscheidende Frage „Können Sie mir bitte sagen: Werde ich im ersten oder im zweiten Quartal dieses Jahres einberufen?“
Nach einer kurzen Pause meldete sich der Sachbearbeiter wieder am Apparat. „Das kann ich Ihnen nicht sagen, Ihre Akte befindet sich nicht bei meinen Unterlagen. Könnten Sie bitte in zirka einer Stunde noch einmal anrufen?“ Damit war das kurze Gespräch schon beendet. Doch was hatte das zu bedeuten? Hoffentlich ließ sich das bald klären!
Eine Stunde später, beim Wiederholungsanruf, meldete sich die Stimme des gleichen Sachbearbeiters wie beim ersten Mal. Seine Antwort auf die Frage lautete diesmal: „Sie sind im Juni nicht zur Einberufung vorgesehen.“ Und nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Wahrscheinlich werden Sie überhaupt nicht eingezogen!“ Die verblüffte Gegenfrage: „Bekomme ich das als schriftlichen Bescheid?“ wurde unmittelbar mit einem klaren „Nein“ beantwortet und das Gespräch war beendet.
Und dabei sollte es bleiben. Nie mehr traf ein Brief des Kreiswehrersatzamtes ein. Ich musste weder Militärpflichtdienst noch zivilen Ersatzdienst absolvieren, konnte ungehindert der Arbeit nachgehen und somit den Lebensunterhalt verdienen. Der Sachverhalt wurde nie definitiv geklärt. Akteneinsicht war nicht möglich aber auch nicht notwendig, schließlich wollte ich keine schlafenden Hunde wecken.
Eine Familienanekdote bringt vielleicht ein klein wenig Licht in die Hintergründe. Mein Onkel hatte nach Aufgabe seiner freiberuflichen Tätigkeit eine Stelle in der Bundeswehrverwaltung angetreten. Er muss wohl eines Tages Zugang zu der Akte seines Neffen erhalten oder sich verschafft haben. Was er dort über mich lesen konnte, teilte er anschließend seiner Schwester, also meiner Mutter, mit. Bei einem Heimatbesuch meinerseits erwähnte Mutter dieses Gespräch und machte dabei ein sehr finsteres Gesicht, was auf Unerhörtes schließen ließ. Tatsachen wurden aber keine benannt. Beide Insider sind schon lange verstorben und nahmen das „Geheimnis“ mit ins Grab.[7]
Die Studentin schloss erfolgreich ihr Studium mit dem Staatsexamen ab und trat den Referendardienst an. Eine Heirat war nicht mehr notwendig und das war auch besser so. Denn nur wenige Jahre später sollte das junge Paar den gemeinsamen Haushalt auflösen. Nach der Trennung von Tisch und Bett gingen auch die Lebenswege auseinander.
Nachbetrachtung
Zunächst muss ich sagen, dass nach einer so langen zeitlichen Distanz sich die Zeitabläufe nicht mehr alle so trennscharf rekonstruieren ließen. Die schriftlichen Unterlagen des Vorgangs liegen entweder tief in alten Kartons im Speicher meines elterlichen Hauses vergraben oder gingen im Verlauf zahlreicher Umzüge verloren. Einige Fakten konnte ich so nur aus dem Gedächtnis annäherungsweise schildern. Freunde aus der Jugendgeneration halfen beim Ergänzen von fehlenden Daten. Der gefühlte Ablauf ist aber korrekt wiedergegeben.
Was bedeutete nun die eben geschilderte Kriegsdienstverweigerung für mein Leben im Rückblick? Sie war der erste Schritt meiner Emanzipation, meiner Selbstfindung und Behauptung gegenüber meinen Eltern, gegenüber einer anonymen Bürokratie eines Staates, mit dem ich mich damals nicht identifizieren konnte und wollte. Ich traf die Entscheidung alleine und musste die Konsequenzen ertragen. Eine Erkenntnis aus dem Prozess war, wie wichtig die Einhaltung von Fristen in einem Rechtsstaat sein kann. Denn durch die rechtzeitige Antragstellung vor Eingang der Musterung habe ich mir viel nicht fremdbestimmte Lebenszeit erhalten.
Anmerkungen:
[1] Das Progymnasium Plochingen war als Neugründung im April 1964 mit zwei ersten Klassen gestartet. Erst mit Erreichen der 9. Klassenstufe und nach der Durchführung der ersten Abiturprüfung im Juni 1972 erhielt die Schule formal den Charakter eines (Voll)Gymnasiums.
[2] Die Deutsche Friedensgesellschaft (DFG) seit 1968 DFG-IdK (Internationale der Kriegsdienstgegner) fusionierte 1974 zur Deutschen Friedensgesellschaft/Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFG/VK).
[3] Die Bekennende Kirche (BK) war eine oppositionelle Bewegung innerhalb der evangelischen Kirchen gegen die Versuche der Nationalsozialistischen Regierung, ab 1934 deren Lehre und Organisation gleichzuschalten. Vom Alliierten Kontrollrat wurde die BK später als „aktive antifaschistische Widerstandbewegung“ anerkannt. (https://de.wikipedia.org/wiki/Bekennende_Kirche, abgerufen 26.11.2020)
[4] Ein kleiner roter Pin wurde von der SPD in den 1970er Jahren eine Zeitlang als Parteiabzeichen angeboten.
[5] Die erweiterte allgemeinbildende polytechnische Oberschule (EOS) in der DDR führte nach 12 Klassen zum Abitur bei gleichzeitiger Berufsausbildung.
[6] Die Stadt Esslingen verfügte damals und bis heute in der Innenstadt über ein umfassendes Netz mit Oberleitungen für die mit Elektromotor betriebenen Oberleitungsbusse.
[7] Es ist zu vermuten, dass Mitte der 1970er Jahre die zahlreichen antimilitaristischen Aktivitäten in den Kasernen so zugenommen hatten, dass man sich nicht zusätzlich weitere „unsichere“ Kandidaten in die Truppe holen wollte.
(Februar 2021)
Thomas Krischer
- 1953 als Kind von schlesischen Eltern in Köngen am Neckar geboren
- 1960 – 1963 Grundschule in Köngen und Plochingen
- 1963 – 1972 Progymnasium Plochingen mit Abschluss Abitur
- 1972 – 1974 Studium Erziehungswissenschaften und Soziologie in Freiburg i.Br.
- 1974 – 1985 Ausbildung zum Maschinenschlosser/Berufstätigkeit bei
Pressenfabrik Fritz Müller in Esslingen (später Müller- Weingarten AG)
- 1985 – 1993 Studium der Empirischen Kulturwissenschaften
und Politikwissenschaft in Tübingen und Madrid
- 1993 – 2018 Gewerkschaftssekretär bei der Industriegewerkschaft Metall, erst
in Chemnitz, Sachsen, und später in Frankfurt a.M. (Arbeitsgebiete: Bildungsarbeit, ITK-Industrie,
Organisation und später Erwerbslose und Rentner)
- Seit 2019 selbst Rentner, beschäftigt sich neben biografischen Themen
auch mit Aspekten der DDR-Geschichte