Reinhard Glatzel (geb. 1954): "Ich bin nach wie vor überzeugter Pazifist"

Von Reinhard Glatzel

Mein Name ist Reinhard Glatzel. Ich bin am 06.06.1954 geboren.

Meine Kindheit habe ich in Sendenhorst in Westfalen verbracht. Da ich das Abitur in Münster gemacht habe, kamen dort die ersten Kontakte zur Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) zustande. Irgendwann bin ich dann auch Mitglied geworden.

Mein Vater war sehr lange in Gefangenschaft, wollte aber nie darüber reden. Als Kriegsgefangener hat er sehr lange in der Gefangenschaft unter Tage im Tulagebiet in Russland gearbeitet und von den schlimmen Auswirkungen des Krieges erzählt. Ob mich das auch beeinflusst hat, kann ich nicht mehr genau sagen.

Ich muss jetzt allerdings Vieles aus meiner Erinnerung schreiben, bzw. aus den vielen Briefen, die ich damals bekommen habe, ableiten.

Ich bin 1972 in die DFG-VK in Münster eingetreten und dadurch in Kontakt mit dem Thema "KDV" gekommen. Ich habe dann selbst auch den Kriegsdienst verweigert.

In den Jahren 1973 bis zum Frühjahr 1975 hatte ich alle meine Verhandlungen.

Im Prüfungsausschuss hieß es, meine Begründung sei zu politisch, in der Prüfungskammer wurde ich ebenfalls abgelehnt, mit der Begründung, ich hätte mich wohl zu wenig mit der Thematik beschäftigt.

Schon der Gang in diese Gremien war mit viel Angst verbunden, weil man immer einer gewissen Willkür ausgesetzt war. Die Begründungen fand ich schikanierend und demütigend.

Trotzdem war ich entschlossen, weiter zu gehen. Ich hatte mit großer Überzeugung den zentralen Satz der DFG-VK unterschrieben: "Der Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Ich bin daher entschlossen, keine Art von Krieg zu unterstützen und an der Beseitigung aller Kriegsursachen mitzuarbeiten."

Dieser Satz hat für mich eine enorme Bedeutung, weil es meine tiefste Überzeugung ist, dass jegliche militärische Gewalt kein Weg ist, und ich werde nicht töten und ich werde mich auch nicht zum Töten ausbilden lassen.

Am schlimmsten hatte es mich dann vor dem Verwaltungsgericht erwischt. Vor dieses zog ich, verbunden mit der Hoffnung, dass es hier mehr um das Recht gehen würde. Begleitet hat mich ein Pfarrer aus Münster.

Aber auch hier wurde ich abgelehnt. In der Begründung hieß es, ich sei zu emotional. Ich hatte ausführlich beschrieben, wie damals Joan O'Hara, die Frau von Victor Jara, ihren Mann im Stadion Santiago de Chile gefunden hatte. Die Faschisten hatten ihm beide Hände mit dem Gewehrkolben zertrümmert, so dass er nicht mehr Gitarre spielen konnte. Er ist trotzdem aufgestanden und hat weiter seine Lieder gesungen. Dann haben sie ihn umgebracht.

Das als zu emotional zu bezeichnen, hat mich stark getroffen. Ich habe mich gefragt, was sind das für Leute, die so über andere urteilen. Wer selber kein Gewissen hat, kann doch nicht über eine Gewissensentscheidung eines anderen urteilen.

Unverschämt fand ich, mir vorzuwerfen, ich sei zu emotional, weil es mich berührt, wenn jemand gefoltert und umgebracht wird.

Ich war auch im "AK Chile" aktiv, hatte viele Kontakte zu Chilenen, war auf vielen Konzerten von chilenischen Gruppen und hatte insofern eine enge Verbindung zu dem Land. Dort hat der Faschismus erneut gezeigt, was das Militär anrichten kann.

Ich wusste, jetzt steht eine harte Entscheidung an: zur Bundeswehr gehen und aufgeben, oder alles verweigern und weiterhin deutlich machen, dass ich Kriegsdienstverweigerer bin.

Ich habe zu der Zeit ein Praktikum im Berufsbildungswerk in Burgsteinfurt gemacht, wo angeblich "schwer erziehbare" Jugendliche auf ihr Berufsleben vorbereitet wurden. Das habe ich gemacht, um für mich eine Entscheidung zu treffen, ob ich Wirtschaft oder Pädagogik studieren sollte. Ich habe dann Pädagogik studiert.

Aber es kam zunächst etwas anders. Ich wurde zum 01.10.1975 zur Bundeswehr eingezogen.

Da ich mich auch weiterhin trotz der Verhandlungen als Kriegsdienstverweigerer sah, war mir klar, dass ich die Waffe verweigern würde.

Ich habe dann die DFG-VK darüber informiert, damit ich die notwendige Unterstützung bekommen konnte. Ich wurde ausführlich über die Folgen aufgeklärt, dass das mit Gefängnis einhergehen würde, und dass mein Studium gefährdet sein könnte, da ich bei einem zivilen Verfahren wegen Befehlsverweigerung mit einer Vorstrafe rechnen müsse.

Trotz der Gefahren habe ich es geplant und mich darauf eingestellt, so dachte ich zumindest.

Ich habe immer gedacht, ich stehe für das Gute und man kann mir doch nichts Böses deswegen tun. Irgendwie wird es schon gut gehen. Das allerdings ist meine grundsätzliche Haltung im Leben. Aber ich hatte auch tierische Ängste, die aber später noch schlimmer wurden.

Ich habe mein Zimmer in der WG gekündigt, die Möbel bei meinen Eltern untergestellt und gehofft, dass es irgendwie gut geht.

Mein Vater hat immer wieder auf mich eingeredet, es sein zu lassen, aber ich konnte nicht anders.

Am 01.10.1975 wurde ich also mit dem Zug in die Kaserne "Lettow-Vorbeck" in Bad Segeberg gefahren. Mit mir im Zug saßen sehr viele andere junge Männer, die ebenfalls eingezogen wurden, aber ich war sofort erkennbar, da ich meine langen Haare behalten hatte.

Ich musste mir dann ein paar "blöde" Sprüche während der Zugfahrt anhören, aber insgesamt war das noch harmlos. 

Als wir in der Kaserne ankamen, sollte ich auf mein Zimmer gehen und einen Trainingsanzug anziehen. Ich habe den Soldaten mitgeteilt, dass ich den Trainingsanzug nicht anziehen werde, da er militärisch sei und ich sei Kriegsdienstverweigerer. Diesen Befehlt erhielt ich dann ein zweites Mal, und mein Nein wurde schon brüchiger in der Stimme, aber ich habe es geschafft, auch beim zweiten Mal Nein zu sagen.

Dann gaben sie mir den Befehl, auf mein zugewiesenes Zimmer zu gehen, und keine Werbung für meine Kriegsdienstverweigerung zu machen.

Genau das habe ich dann auch getan und gewartet. Natürlich wurde ich angesprochen, wieso ich so lange Haare hätte und wieso ich mich nicht umziehen würde. Ich habe ihnen gesagt, dass ich Kriegsdienstverweigerer sei und keine Uniform anziehen werde.

Dann kam ein Soldat, um mich zum Essen zu begleiten, also eher um zu verhindern, dass ich Werbung mache.

Als ich mit ihm in den Speisesaal kam, saßen 143 Soldaten an Tischen und haben gegessen, und der Soldat setzte sich mit mir an einen einzelnen Tisch und holte mir was zu essen. Sofort kamen die Kommentare: "Na, der hat wohl einen Butler; dich bekommen sie auch noch", usw.

Dann fragte einer, was mit mir los sei. Ich stand auf, und sagte, ich sei Kriegsdienstverweigerer und werde keine Uniform anziehen.

Sofort wurde ich von meinem begleitenden Soldaten angewiesen, mich hinzusetzen und ruhig zu sein.

Nach dem Essen wurde ich einem ranghohen Offizier vorgeführt, der mir zweimal im schreienden Ton den Befehl gab, die Uniform anzuziehen. Auch wenn beim zweiten Mal meine Stimme schon etwas brüchiger war, habe ich es verneint und wurde dann von einem Soldaten begleitet und in die Arrestzelle geführt.

Am nächsten Morgen wurde ich wieder in Begleitung eines Soldaten zu einem Offizier - die Dienstgrade konnte ich mir nicht alle merken - geführt, und ich bekam wieder zweimal den Befehl, die Uniform anzuziehen. Wieder habe ich es zweimal verneint und wurde durch die gleiche Begleitung erneut in die Arrestzelle geführt. Dann wurden mir alle Bücher und mein Tabak abgenommen und ich bekam nur noch die Bibel zu lesen. Die wachhabenden Soldaten waren zunächst sehr zurückhaltend im Kontakt zu mir. Vermutlich hatten sie selber Angst, für eine Kontaktaufnahme bestraft werden zu können.

Ein Wachsoldat war gnädig und warf mir eine brennende Zigarette durch das kleine Loch in der Zellentür, so dass ich mal eine rauchen konnte.

Am dritten Tag wiederholte sich die selbe Prozedur und ich verneinte wiederum den Befehl zweimal.

Als nächstes erhielt ich durch das Truppengericht - wenn ich es noch richtig weiß - eine Haftstrafe von sieben Tagen und wurde wieder abgeführt.

Plötzlich saß in meiner Zelle gegenüber ein weiterer Kriegsdienstverweigerer, der mir sagte, dass er auch alles verweigert und nun in der gleichen Situation sei wie ich.

Mitten in diesen sieben Tagen hielt ich es nicht mehr aus, und da man sich um mich Sorgen machte, wurde ich in den Krankenbereich verlegt, aber mit einer Bewachung vor der Tür.

Ich habe nicht gewusst, was es bedeutet, eingesperrt zu sein. In Münster hatte ich noch zu Freunden gesagt, das sitze ich "auf einer Arschbacke ab", aber weit gefehlt. So ab 16.00 Uhr wurde es immer schlimmer, dieses Gefühl, hier werden die Falschen eingesperrt. Ich will was Gutes, und dafür werde ich bestraft. Das habe ich nicht mehr ausgehalten, habe angefangen zu schreien, zu weinen und zu verzweifeln.

Vor der Kaserne wurden schon Demonstrationen für mich abgehalten und ich bekam jeden Tag mehr als 30 Briefe, so dass mich ein Offizier schon fragte, ob man mich kennen müsste, bei so viel Öffentlichkeit.

Dabei hatte Pastor Ulrich Finckh außerhalb der Kaserne eine gute Öffentlichkeit für mich hergestellt und die DFG-VK hatte zusammen mit der War Resisters' International eine tolle Solidarität bewirkt.

Nach den sieben Tagen Arrest bekam ich, nachdem ich auch weiterhin den Befehl zweimal abgelehnt hatte, die nächste Haftstrafe, und zwar 14 Tage Arrest.

Während dieser 14 Tage wurde ich zu einer Psychologin nach Kiel geschickt, um ein psychologisches Gutachten über meine persönliche Situation zu erstellen. Wahrscheinlich haben viele gedacht, ich würde nicht wieder kommen, aber weit gefehlt.

Ich bin zu der Psychologin gefahren und in ihrem Gutachten hat sie geschrieben, dass "die Bundeswehr in Anbetracht meiner Kriegsdienstverweigerung eine zu große psychische Belastung für mich wäre, und sie empfiehlt, mich sofort aus der Bundeswehr zu entlassen."

Ich bin wieder zurück in die Kaserne und kam weiterhin auf die Krankenstation. Einmal kam ich an einem Aushang vorbei, aus dem ersichtlich war, wohin die Soldaten nach der Grundausbildung kommen werden. Bei mir stand da nichts, was ich schon mal als ein gutes Zeichen wertete.

Dann kam am 21.10. ein ranghoher Offizier zu mir ins Zimmer und fragte, wieso ich eigentlich immer noch hier bin. "Die Psychologin hat dich doch untauglich geschrieben." Ich konnte die Frage nicht beantworten, aber meine Hoffnung wurde größer.

Am 22.10. wurde ich dann auch tatsächlich als untauglich entlassen und bin zurück in meine Heimat gefahren.

Meine Eltern haben mich mit einer Flasche Sekt empfangen und waren richtig froh, dass ich wieder da war.

Es war ein tolles Gefühl. Vor allem die Solidarität, die ich erfahren hatte, werde ich nie vergessen. Es ist ein so schönes Gefühl, in einer solchen Situation nicht alleine zu sein und draußen stehen Menschen, die sich für dich einsetzen, die deine Freilassung wollen, einfach toll.

Da ich meine Möbel während der Zeit bei meinen Eltern untergestellt hatte, wohnte ich zunächst auch da, bis ich einen Studienplatz in Münster bekommen habe und dann auch einen Platz in einer WG.

Ich habe dann Pädagogik studiert. Außerdem war ich jahrelang im Landesvorstand der DFG-VK in NRW und zuständig für die KDV-Beratung und habe Fortbildungen zu dem Thema angeboten. Beteiligt war ich auch an der Vorbereitung der großen Demonstrationen, vor allem der in Bonn.

Ich habe dann sogar nochmal einen Antrag auf KDV gestellt, der aber abgelehnt wurde, da ich ja untauglich war. Als dann die Diskussion aufkam, dass auch die privaten PKWs im "Ernstfall" eingezogen werden könnten, habe ich einen Antrag auf KDV für mein Auto gestellt, aber das wurde nur belächelt.

Ich bin nach wie vor überzeugter Pazifist, arbeite im AK Frieden in Metzingen und vertrete auch parteipolitisch die klare pazifistische Linie.

Dafür werde ich als Träumer und Idealist bezeichnet, aber das sind für mich Komplimente.

Es gibt keine Alternative zum Frieden.

Ich selber habe eine Tochter, die nie zum Kriegsdienst gehen würde. Und allen anderen empfehle ich immer das Lied von Reinhard Mey: "Nein, meine Söhne geb' ich nicht." 

(Dezember 2021)