Michael Schmid (geb. 1951): Mein langer (Um-)Weg zur Kriegsdienstverweigerung
Von Michael Schmid
Olympische Spiele 1972 in München. Jahre davor hatte ich noch davon geträumt, dort selber mitzumachen. Dass ein derartig hochgestochenes Ziel für mich persönlich unrealistisch war, war mir allerdings auch schon einige Jahre klar. Meine „Liga“ bei meinen Leichtathletikwettkämpfen spielte sich eher auf der Kreis- und Landesebene ab. Noch vor wenigen Wochen war ich persönliche Bestzeiten über 800 m und 1.500 m gelaufen. Aber in kurzer Zeit war sehr viel passiert, das mein Leben völlig auf den Kopf stellte. Ziemlich verzweifelt lag ich nun im Krankenhaus meiner Heimatstadt Plochingen und musste froh sein, dass es die freundliche Oberschwester Jutta für mich organisierte, in ein Zimmer verlegt zu werden, in dem ein Fernsehgerät stand und die beiden anderen Zimmergenossen ebenfalls Interesse an den Olympischen Spielen hatten. So konnte ich zumindest im Fernsehen dieses großartige Ereignis ein Stück weit miterleben. Das bewirkte, dass sich meine ansonsten völlige Niedergeschlagenheit zumindest zeitweise etwas aufhellen konnte.
Tatsächlich ging es mir aber extrem schlecht. Denn nach einer Blinddarmoperation war ich völlig „außer Gefecht“ gesetzt. Dieser militaristische Begriff traf tatsächlich auf meine Situation recht genau zu. Denn im Krankenhaus befand ich mich nicht als Zivilist, sondern als wehrpflichtiger Soldat. Bevor sich „Jäger Schmid“ in das Plochinger Krankenhaus begeben konnte, nachdem er starke Schmerzen im Blinddarmbereich hatte, musste er dafür die Erlaubnis der am nächsten gelegenen Bundeswehreinheit in Esslingen einholen. Indem ich die erforderliche OP wenigstens im Krankenhaus meiner Heimatstadt vornehmen lassen konnte, kam zumindest ein Hauch von Vertrautheit zu einer Zeit meines Lebens auf, in der ich mich sehr fremdbestimmt und mir selbst entfremdet vorkam.
Einberufung
Ende Juni 1972 hatte ich das Abitur abgeschlossen. Fünf Tage später musste ich mich bei der Bundeswehr im über zweihundert Kilometer von Plochingen entfernten Oberbexbach einfinden. „Sie werden gebeten, sich am 04.07.1972 bis 18 Uhr, in 6652 Oberbexbach bei AusB KP 12/III Saarpfalz-Kaserne zum Diensteintritt zu stellen“, hatte es im Einberufungsbescheid geheißen, den ich ein paar Wochen zuvor vom Kreiswehrersatzamt Stuttgart erhalten hatte. Natürlich hatte ich vorher noch nie etwas von dieser kleinen Gemeinde im Saarland gehört. Immerhin konnte ich ausfindig machen, dass es dort einen Bahnhof gab. Und so trat ich am angeordneten Tag die Zugreise ins Unbekannte an. In Esslingen stieg Henry in den Zug zu – ein nunmehr ehemaliger Klassenkamerad. Nachdem wir uns in unserer Schulklasse über erhaltene Einberufungsbescheide ausgetauscht hatten, stellten Henry und ich mit einer gewissen Erleichterung fest, dass wir dasselbe Reiseziel haben würden. Ja, wir wurden dann in der Kaserne sogar im gleichen 5-Mann-Zimmer untergebracht. Für Henry war dieses Einrücken zur Bundeswehr vermutlich noch viel schwerer als für mich, denn er hatte einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt, allerdings erst nach der Musterung. Und da er noch kein Anerkennungsverfahren gehabt hatte, musste er nun erst einmal zur Bundeswehr. Meiner Erinnerung nach haben wir uns weder vorher noch während den gemeinsamen Wochen bei der Bundeswehr je über die Gründe für seine Kriegsdienstverweigerung unterhalten. Leider!
Warum zur Bundeswehr?
In meiner Jugendzeit hatte ich oft Kriegsbilder im Fernsehen gesehen, die mich schrecklich berührten. Allerdings gehörten sie für mich der Vergangenheit an bzw. ereigneten sich weit weg, zum Beispiel in Vietnam. Und meine Eltern erzählten uns Kindern über ihre schlimmen Erfahrungen während der Nazi-Diktatur und im 2. Weltkrieg und auch davon, dass ein Onkel von mir, der als 18-Jähriger Soldat werden musste, in Russland vermisst wird. Mein Vater musste als 17-Jähriger Soldat werden. Durch diese persönlichen Erzählungen wurde eine Abscheu gegenüber Krieg und Gewalt tief in mir verwurzelt. Zwar wünschten sich meine Eltern, dass es bei uns nie mehr Krieg geben solle, aber einen Zusammenhang mit dem Ableisten meines Wehrdienstes bei der Bundeswehr konnten sie nicht erkennen. Aufgrund ihres obrigkeitstreuen Denkens war ihre Erwartungshaltung an mich klar: Mach, was von dir erwartet wird und geh zur Bundeswehr!
Bei meiner Sozialisation in der römisch-katholischen Kirche wurden zwar die Gebote von der Nächstenliebe und dem: „Du sollst nicht töten!“ als elementar wichtige Werte vermittelt. Trotzdem stand diese Kirche der Kriegsdienstverweigerung lange Zeit mit starken Vorbehalten gegenüber, weil sie entsprechend ihrer theologischen Tradition vom gerechten Verteidigungskrieg und von einer Kriegspflicht ausging. Kriegsdienstverweigerung galt demnach als Ausdruck eines Irrtums. In diese Tradition bin ich hineingewachsen, u.a. auch als Pfadfinder. So war es kein Wunder, dass zum Beispiel alle etwas älteren Pfadfinder, die ich kannte, bei der Bundeswehr waren.
Damals sind aus meinem Freundeskreis nahezu alle zur Bundeswehr gegangen. Und als Leistungssportler waren mir zudem hervorragende Trainingsbedingungen in Aussicht gestellt. Ältere, bundeswehrerfahrene Sportkameraden hatten mir versichert, dass dort die Trainingsbedingungen für mich ziemlich gut wären und ich gleichzeitig frei von anderen Verpflichtungen wie Schule und Studium sei. Wenn’s ganz gut ginge, so hoffte ich, könnte ich sogar zu einer Sportförderkompanie kommen. Andererseits tröstete ich mich mit dem Gedanken, dass ich ja in vielen Jahren bei den Pfadfindern eine Ausbildung durchlaufen und Erfahrungen gesammelt hätte, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Soldatsein aufweisen würden. Vom Verweigern des Kriegsdienstes hatte in meinem engeren Umfeld bis dahin niemand gesprochen. Und so wusste ich zwar, dass es so etwas gibt, aber warum sollte ich den Kriegsdienst verweigern?
Im Vorfeld malte ich mir also aus, dass ich meinen 18-monatigen Wehrdienst bei der Bundeswehr möglichst gut hinter mich bringen wollte. Erfüllen, was unbedingt erforderlich war. Mehr aber nicht. Vor allem nicht, mich für länger als den Grundwehrdienst verpflichten, um eine Offizierslaufbahn einzuschlagen. Und zudem wollte ich dann die Zeit nach der Grundausbildung für gutes Training nutzen.
Erste Erfahrungen mit dem Soldatenleben
Unkritisch und unpolitisch wie ich damals war, bin ich also ziemlich blauäugig meiner Einberufung zum Wehrdienst gefolgt und war dann ab dem 4. Juli 1972 Soldat. Allerdings hatte ich bereits in den ersten Stunden in der Kaserne das Empfinden, am völlig falschen Ort gelandet zu sein. Ab nun wurde uns mit viel Gebrüll und Schikanen der Gehorsam eingetrichtert. Wie oft wurden wir von unserer Stube im 3. Stockwerk die Treppen hinuntergescheucht und sollten uns vor dem Gebäude nach einer vorbestimmten Ordnung aufstellen. Da das den Ausbildern immer zu lange dauerte, wurden wir wieder die Treppen hinaufgejagt. Meist wiederholte sich dieses Prozedere dreimal, bis „es passte“. Und selbstverständlich konnte das Marschieren im Gleichschritt selten zur Zufriedenheit der Vorgesetzten umgesetzt werden. Vor allem, wenn dann auch noch gleichzeitig ein Lied angestimmt werden musste. Apropos Lied: Normalerweise fanden unsere Übungen in unserem „Zug“ statt, dem 30 Rekruten angehörten. Drei Züge waren dann zu einer Kompanie zusammengefasst. Aber das spielte in unserem Bundeswehralltag eigentlich keine Rolle. Jeder Zug wurde für sich getrimmt. Jeder Zug lernte auch ein Lied. Bis eines Tages ein Reserveoffizier, der eine Wehrübung absolvierte, als Vertretung unseres Kompaniechefs eingesetzt wurde. Ohne sich für die bisherigen Gegebenheiten zu interessieren, ließ er die gesamte Kompanie antreten. Und dann ging es los mit dem Marschieren. Schließlich befahl er, ein Lied zu singen. Ein toller Befehl für drei Züge, die je ein anderes Lied eingetrichtert bekommen hatten. Und so sah er sich voll berechtigt, sich wie Rumpelstilzchen zu gebärden und uns zur Schnecke zu machen. Denn natürlich sah er den Grund für den erbärmlichen Gesang in unserem Unvermögen, seinem Befehl gehorsam Folge zu leisten. Es dauerte noch geraume Zeit und einiger neuer Versuche, bis sich einer unserer Vorgesetzten getraute, den Kompaniechef i.V. auf seinen Irrtum aufmerksam zu machen.
Diese Anekdote aus dem Bundeswehralltag soll als Beispiel genügen, wie absurd es dort oft zuging. Jedenfalls fühlte ich mich fortlaufend wie im falschen Film. Damit wir im sog. "Ernstfall" willenlos funktionierten, wurde uns mit viel Drill, Menschenverachtung und Schikane das Befehl-Gehorsam-Prinzip einzutrichtern versucht. Dabei war ich zu dieser Zeit körperlich außerordentlich fit, so dass mir das viele „Wegtreten im Laufschritt, Marsch, Marsch!“ im Gegensatz zu vielen meiner Kameraden wenig anhaben konnte. Aber ich habe enorm darunter gelitten und mich gedemütigt, erniedrigt, herumkommandiert, schikaniert und kleingemacht gefühlt. Das Gefühl von Pfadfinderromantik hat sich jedenfalls zu keiner Minute eingestellt.
Ausbildung zum Töten
Dazu kam dann aber rasch die Ausbildung mit dem Gewehr. Jeder von uns erhielt ein G3 der Marke Heckler & Koch. Zunächst lernten wir, das Gewehr in seine Einzelteile zu zerlegen und es anschließend wieder zusammenzubauen. Und dieser Vorgang musste so erlernt werden, dass wir ihn schließlich in der Dunkelheit absolvieren konnten, wofür wir einen Sack über den Kopf überstreifen mussten.
Und dann dauerte es nicht mehr lange, bis das erste Scharfschießen auf dem Plan stand. Auf dem Schießstand wurden wir auf die verschiedenen Schießbahnen eingeteilt. Wir erhielten ein Magazin mit fünf Schuss scharfer Munition. In einiger Entfernung stand auf jeder Bahn eine Zielscheibe mit einem Menschenbild, ein sogenannter „Pappkamerad“. Als ich an der Reihe war, forderte mich der Ausbilder neben mir auf: „Jetzt schieß dem bösen Russen mitten ins Gesicht!“ Als nach den abgegebenen Schüssen die Trefferzahl durchgegeben wurde, lautete das Ergebnis von der Zielscheibe meiner Schießbahn: 0 – 0 – 0 – 0 – 0 Treffer. Nein, spontan war mir klargeworden: Ich möchte weder einem „bösen Russen“ noch sonst jemanden mit einer Waffe verletzen oder töten. Alles in mir sträubte sich dagegen. Also habe ich spontan danebengeschossen.
Als eine Woche später die nächste Übung im Scharfschießen angesetzt wurde, verweigerte ich die Teilnahme sozusagen durch eine Krankmeldung beim Stabsarzt. Meine Achillessehne tat so verdammt weh… Aber auf längere Sicht war das natürlich kein Weg aus dem Schlammassel. Auch die Beschreibungen in unserem Bundeswehrhandbuch, das jeder Soldat ausgehändigt bekommen hatte, ließen keinen Zweifel darüber aufkommen, dass es um die Ausbildung zum Töten ging. Dort wurde z.B. beschrieben, wie der Feind mit dem Spaten "kampfunfähig" zu machen sei - wie es verharmlosend umschrieben wurde -, indem man ihm fachgerecht den Schädel spaltet. Das alles hatte seine Wirkung auf mich. Und ich fühlte mich in einer ganz großen Sackgasse. Wie sollte das weitergehen?
Zeit, groß weiter darüber nachzudenken, hatte ich kaum. Denn das nächste Wochenende stand bevor. Freitags war eigentlich der Höhepunkt der Woche. Auf diesen Tag lebten wir hin, weil wir dann nachmittags für das Wochenende nach Hause durften. Endlich ein paar Stunden in gewohnter Umgebung verbringen und Freunde treffen. Das war Woche für Woche ein kleiner Lichtblick. Auch wenn wir davor immer noch einen Großputz mit anschließendem Stubenappell hinter uns bringen mussten. Beste Gelegenheit für Vorgesetzte, die kleinen Soldaten nochmal so richtig zu piesacken und zu zeigen, wer das Sagen hat. Da es aus unserer Fahrgemeinschaft meistens einen traf, bei dem noch etwas bemängelt wurde und für den es dann einen Nachappell gab, konnte die Fahrt ins freie Wochenende oft erst mit ein, zwei Stunden Verspätung starten.
Dann kam jenes besagte Wochenende. Am Freitagvormittag hatten wir unsere Gewehre aus der Waffenkammer holen und damit vor dem Gebäude antreten müssen. Dann der Befehl: „Mit den Gewehren auf die Stuben wegtreten, Marsch, Marsch!“ Unter großem Gebrüll bewegte sich die Mannschaft treppauf. Noch nicht richtig in der Stube angekommen, folgte der nächste Befehl: „Ohne Gewehr vor dem Gebäude angetreten, …!“ Es wurde enormer Druck erzeugt, der dazu führte, dass ich zwar das Vorhängeschloss in meinem Spind zuklappte, dieses aber wegen der Eile nicht extra mit dem Schlüsselchen abschloss. Nachdem wir vor dem Gebäude angetreten waren, der nächste Befehl: „In die Stuben abtreten, dann mit dem Gewehr wieder vor dem Gebäude antreten!“ Tja, welch eine Überraschung: in meinem Spind konnte ich das vorher dort verstaute G3 nicht mehr finden. Natürlich viel Gebrüll und Gemecker! Und so, wie mir, ging es dann noch einigen anderen. Also Antanzen beim Hauptfeldwebel und eine Standpauke über uns ergehen lassen. Natürlich hatten sich, oh Wunder, unsere Gewehre allesamt in der Waffenkammer eingefunden. Zur Strafe bekamen wir nun aber die Wochenendbereitschaft aufgebrummt. Tiefer Frust machte sich breit, so kurz vor Torschluss das freie Wochenende futsch…
Krankheit als Weg?
Im Laufe dieses Bereitschaftswochenendes in der Kaserne ging es mir nicht nur psychisch bescheiden, sondern ich spürte auch zunehmende körperliche Beschwerden. Neben einer leichten Übelkeit machten sich Schmerzen im Blinddarmbereich bemerkbar. Also ging ich gleich am Montagmorgen zum Stabsarzt. Nachdem ich ihm meine Beschwerden geschildert hatte, meinte er trocken: „Ach ja, der alte Trick!“ Die Temperaturmessung überzeugte ihn aber doch davon, dass ich nicht gesund war. Also erfolgte eine stationäre Aufnahme im Sanitätsbereich der Kaserne. Mir wurde Bettruhe verordnet und der Bereich um den Blinddarm wurde gekühlt. Während ich das Bett hütete, nahmen die Schmerzen tatsächlich wieder ab. Rechtzeitig zur Heimfahrt am Freitag wurde ich dann wieder als gesund ins Wochenende entlassen. Bereits auf dem Weg zu meiner Unterkunft musste ich allerdings feststellen, dass das mit der Heilung doch ein nachhaltiger Irrtum war. Aber jetzt fuhr ich erst einmal mit den Kameraden nach Plochingen. Als die Schmerzen am Sonntagabend nicht besser waren, rief ich, wie oben geschildert, in der Kaserne in Esslingen an.
Erst viel später konnte ich die ärztlichen Fachbegriffe für mich entziffern: Demnach war der Blinddarm offensichtlich so stark vereitert, dass er bei der Operation geplatzt war. Die lange Verzögerung durch die stationäre Aufnahme in der Bundeswehrkaserne dürfte hierfür verantwortlich gewesen sein. So musste ich nach der Operation nahezu eine Woche lang das Bett hüten. Mit fatalen weiteren Folgen, denn ich bekam massive Schmerzen im linken Bein und dann auch im Brustkorb. Der junge Stationsarzt, der eine Thrombose als Ursache vermutet hatte, wurde dafür bei der Chefarztvisite ausgelacht (wäre der Stationsarzt mit seiner Diagnose ernst genommen und fachgerecht gehandelt worden, wäre mir sehr viel erspart geblieben). Danach da gab es dann weder diesen noch einen anderen Befund. Doch mir ging es ziemlich übel. Als ich wieder aufstehen und mich bewegen konnte, musste ich leider feststellen, dass mein linkes Bein bei Belastung schlechter durchblutet, leicht gefärbt und auch leicht geschwollen war. Aber das interessierte nach dem vernichtenden Urteil des Chefarztes im Krankenhaus Plochingen niemanden mehr. Nach vier Wochen Krankenhausaufenthalt wurde ich endlich entlassen. Mein Hausarzt konnte mit den von mir geschilderten Beschwerden ebenfalls nichts anfangen und so wurde ich nach zwei weiteren Wochen zuhause wieder als gesund zur Bundeswehr zurückgeschickt.
Ende September zurück in der Kaserne in Oberbexbach, stand auch schon das Ende der dreimonatigen Grundausbildung unmittelbar bevor. Wir wurden alle zu neuen Einheiten versetzt. Und weil ich nicht weiter an der Tötungsausbildung teilnehmen wollte, meldete ich mich zu den Sanitätern. Allerdings musste ich später feststellen, dass auch Sanitäter im „Ernstfall“ ein Gewehr mit sich führen. Außerdem wurde mir natürlich bald klar, dass der Sanitätsdienst ebenfalls zum "Unternehmen Krieg" beiträgt, denn er ist ein von vornherein fest eingeplanter Teil in der militärischen Apparatur.
Ausweg Sanitäter?
Aber jetzt ging es zunächst mit dem Bundeswehrbus aus dem Saarland zur neuen Einheit nach Koblenz, einem technischen Bataillon. Meine Dienstbezeichnung wechselte dadurch von „Jäger“ auf „Schütze“ und betonte damit kein bisschen weniger, was ich genau nicht wollte: Schießen! Das Kürzel meiner neuen Einheit lautete „1./TBtl SW 360“. Was sich genau dahinter verbirgt, war mir damals sicher überhaupt nicht klar. Erst jetzt im Internetzeitalter konnte ich ohne Probleme herausfinden, dass das Kürzel für „Technisches Bataillon Sonderwaffen 360“ steht. „Sonderwaffen“, so viel hatte ich dann später als Friedensaktivist verstanden, ist der verschleiernde Begriff für das Verschießen von „Sondermunition“, also u.a. von Atomwaffen. Die Einheit, der ich zugeschlagen wurde, war für die Instandhaltung nuklearfähiger Waffen im III. Korps zuständig. Mit den Panzern „unseres“ III. Korps wären also amerikanische Atomsprengköpfe verschossen worden. Denn: „Im Verteidigungsfall war das Korps … in die NATO-Kommandostruktur eingebunden und Teil der 7. US-Armee. Operationsgebiet wäre die deutsch-deutsche und deutsch-tschechoslowakische Grenze in Hessen und Franken gewesen.“ So ist in Wikipedia zu lesen. Und ich als kleiner Sanitäter mittendrin im Atomkrieg! Atemschutzmaske aufsetzen, die atomare Verseuchung mit Ästen oder ähnlichem aus den Kleidern ausklopfen und schon kann ich andere versorgen! So ähnlich sind wir in das Thema ABC-Waffen eingeführt worden. Welche totale Verharmlosung von Massenvernichtungsmitteln! Doch seinerzeit war mir das alles nicht bewusst und ich kann nicht sagen, welche Bedeutung es für mich gehabt hätte, wären mir diese Informationen seinerzeit schon in ihrer Tragweite klar gewesen. Jahre später sollte ich jedenfalls zum entschiedenen Aktivisten gegen Atomwaffen werden.
Nach meiner Ankunft bei der neuen Einheit in der Fritsch-Kaserne in Koblenz wurde ich nun wunschgemäß den Sanitätern zugeteilt. Aber kaum angekommen, wurde ich gleich weiter zu einem Sanitätslehrgang nach Gießen geschickt. Körperlich fühlte ich mich nach wie vor schwer angeschlagen, wurde aber von allen Stabsärzten, die ich aufsuchte - ob in Oberbexbach, Koblenz und dann auch Gießen -, als dienstfähig eingestuft. Mir wurde immer der Rat mit auf den Weg gegeben, bei der jeweils nächsten Station dann wieder den Stabsarzt aufzusuchen. Während den rund vier Wochen in Gießen waren es dann auch noch verschiedene Ärzte, die mir mit durchaus unterschiedlichen, teils reichlich absurden Mutmaßungen begegneten. Schließlich kam dann endlich ein Arzt – es war inzwischen immerhin der achte Mediziner, dem ich meine Beschwerden in Bein und Brust geschildert hatte -, auf die Idee, ich solle ins Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz zur gründlichen Untersuchung. Also ab mit dem Zug nach Koblenz. Ein Sanitätsfeldwebel, der im Bundeswehrkrankenhaus eine Anamnese mit mir durchführte, empörte sich ziemlich darüber, warum ich nicht gleich zur stationären Aufnahme eingewiesen worden sei. Für ihn war ziemlich schnell klar, was für ein Befund bei mir wohl vorlag. Endlich! Große Erleichterung, endlich auf einen Menschen gestoßen zu sein, der meinen Zustand ernstnahm.
Untersuchungen ergaben dann, dass tatsächlich eine große Beckenvene völlig verschlossen war. Zunächst wollten die Ärzte operieren. Doch dann hatten sie eine neue Erkenntnis: Im Laufe der inzwischen vergangenen immerhin drei Monate (!) hatte sich mein Blut einen neuen Weg gebahnt. Also wäre eine Operation nicht mehr sinnvoll. Und gewissermaßen als eine Art „Belohnung“, so hörte es sich für mich jedenfalls an: Ich würde wegen vorübergehender Dienstunfähigkeit aus der Bundeswehr entlassen werden. Mein Gefühlschaos war sicherlich ziemlich groß: Einerseits unendlich betrübt über meinen angeschlagenen Gesundheitszustand und das vermeintliche Ende meiner Laufbahn als Leistungssportler. Andererseits große Erleichterung und Freude über ein vorzeitiges Ende des Wehrdienstes! Es hatte etwas Verlockendes, endlich diese Fremdbestimmung und diesen tiefen Gewissenskonflikt als Soldat hinter mir lassen zu können!
Langwieriger Entlassungsvorgang aus der Bundeswehr
Leider war es dann keineswegs so, dass die Entlassung aus der Bundeswehr der Entlassung aus dem Bundeswehrkrankenhaus unmittelbar auf dem Fuß gefolgt wäre, wie ich mir das ausgemalt hatte. Nein, ganz und gar nicht! Denn in der Kaserne erfuhr ich, dass dafür erst einmal die Unterlagen aus dem Krankenhaus erforderlich seien. Also wurde ich zunächst für zwei Wochen „heimkrank“ geschrieben. Zu Hause durfte ich also abwarten, bis es hoffentlich endlich mit der Entlassung so weit ist, dachte ich. Also die lange Zugfahrt von Koblenz nach Plochingen und nach zwei Wochen wieder andersherum. Voller Hoffnung, dass es nun mit der Entlassung klappen wird, suchte ich in der Kaserne den Arzt auf. Bittere Enttäuschung, denn es lagen immer noch keine Unterlagen vor. Außerdem eröffnete mir der Stabsarzt, er müsse mich zwar weiter krankschreiben, aber noch sei ich Soldat und dürfe deshalb ab jetzt nur am Wochenende nach Hause. Ich fühlte mich am Boden zerstört.
Noch wusste ich nicht, dass das nun folgende Prozedere sich über ca. drei Monate hinziehen würde. Woche für Woche bestieg ich nun immer Sonntagabends kurz nach 22 Uhr den Zug in Plochingen, der frühmorgens um ca. 4:30 Uhr in Koblenz Hauptbahnhof einlief. Eine Stunde durfte ich dort das nächtliche Leben beobachten, bevor dann der erste Bus hinauf zur Fritsch-Kaserne fuhr, die in der Nähe der Festung Ehrenbreitstein lag. Dann lief ich gegen 6 Uhr in die Kaserne ein. Und dann? Ich war ja „vorübergehend nicht wehrdienstfähig“ und deshalb von allen Diensten befreit. Und so musste ich mir in dieser absurden Situation eigene Aufgaben in einer mir ziemlich fremden Kaserne suchen, in der ich ja zu keiner Zeit regulären Dienst absolviert hatte. Schlafen musste ich im Gebäude der Einheit, der ich formal zugeordnet war. Dort kannte ich aber keinen Menschen, und andersherum kannte mich dort niemand. Nicht mal meine unmittelbaren Vorgesetzten. Es fiel lediglich auf, wenn ich einem solchen ohne Uniform über den Weg lief. Das ging natürlich überhaupt nicht, noch sei ich ja Soldat. Und der Haarerlass gelte auch für mich noch weiterhin. Also nach dem Wochenende mit kurz geschnittenen Haaren bei ihm vorsprechen! Am ehesten fühlte ich mich im Sanitätsbereich „beheimatet“, meinem ursprünglich geplanten Arbeitsplatz, den ich ja wegen Krankschreibung nie angetreten hatte. Dort konnte ich an den Mahlzeiten teilnehmen und manches Mal übernahm ich kleinere Aufgaben, um der Langeweile zu entrinnen. Vor allem als Beifahrer bei den Fahrten ins Bundeswehrkrankenhaus kam etwas Abwechslung in mein tristes Leben.
Dieses mir aufgezwungene absurde Leben führte mich an meine Grenzen. Ziemliche Verzweiflung machte sich breit. Mit meinem Gott haderte ich des Öfteren, weil meine Gebete nicht wunschgemäß in Erfüllung gingen (was wiederum letztlich half, meinen Kinderglauben zu überwinden). Auch wenn ich mir nichts sehnlicher wünschte, als endlich aus der Bundeswehr entlassen zu werden und sich in mir auch die Gewissheit breitmachte, dorthin danach nie mehr zurückzukehren, zur formalen Kriegsdienstverweigerung fehlte mir in dieser Situation noch die Courage.
So übte ich zumindest kleine stille Akte des Ungehorsams aus. Woche für Woche verließ ich die Kaserne bereits vor dem Dienstschluss am Freitagnachmittag. Aus der 5-Tage-Woche in der Kaserne machte ich zunehmend eine 4- oder gar eine 3-Tage-Woche. So eroberte ich mir zumindest in kleinem Umfang meine Selbstbestimmung in einem fremdbestimmten Feld zurück. Nachdem ich bei der ersten selbständigen Wochenverkürzung die Kaserne noch in Zivilkleidung verließ, änderte ich die Taktik. Denn ich sah mich dem Problem gegenüber, dass sich der Ausgang aus dem Gebäude in Richtung der Büros der gesamten Vorgesetzten befand und ich danach auch noch an deren Fenster vorbeigehen musste, um zum Kasernenausgang zu gelangen. Und sich in Zivilkleidung auf einem Terrain zu bewegen, auf dem zu dieser Zeit nur Uniformierte verkehrten, das wäre doch sehr auffällig gewesen. Mich in Uniform in der Öffentlichkeit zu zeigen, rief in mir ziemlich peinliche Gefühle hervor. Aber nun musste ich mich schweren Herzens uniformiert auf den Weg aus der Kaserne machen. Allerdings legte ich nur ein einziges Mal dabei die gesamte Strecke bis nach Hause in Uniform zurück. Dann war die Obergrenze meines tolerierbaren Peinlichkeitslevels überschritten. Fortan nutzte ich die Toilette im Hauptbahnhof Koblenz als Umkleidekabine. Hinein ging der vermeintliche „Schütze Schmid“, heraus kam der Zivilist Michael Schmid.
Ja, und dann kam doch der lange herbeigesehnte Tag. In einem Schreiben teilte mir der Kommandeur der Korpstruppen III. Korps hochoffiziell mit, dass er mich zum 15. März 1973 aus der Bundeswehr entlasse. Gegen diese Entlassungsverfügung könne ich „innerhalb von zwei Wochen nach ihrer Bekanntgabe, frühestens jedoch nach Ablauf einer Nacht, Beschwerde“ einlegen. Nun, ich benötigte weit weniger als eine Nacht, um ganz sicher zu sein, dass ich davon keinen Gebrauch machen würde. Und so hatte ich schließlich nach achteinhalb Monaten meinen Wehrdienst abgeschlossen.
Gesellschaftspolitisches Engagement und Kriegsdienstverweigerung
Allerdings noch überhaupt nicht abgeschlossen, sondern erst noch ganz am Anfang, stand ich in meiner Aufarbeitung des mich tief erschütternden, schockierenden Erlebnisses mit der Bundeswehr. Wie konnte ich so naiv und blauäugig in etwas hineingeraten, das mir zutiefst zuwider war?
Doch so schwierig und krisenträchtig meine Zeit bei der Bundeswehr auch war, sie wurde zu einem echten Schlüsselerlebnis für meine weitere Entwicklung, das mich auch heute noch sehr nachhaltig prägt. Bereits während der langen Monate bis zur Beendigung meines Wehrdienstverhältnisses begann ich, Bücher wie "Im Westen nichts Neues" (Remarque), "Der Himmel war unten" (Härtung), "Draußen vor der Tür" (Borchert), "Der Zug war pünktlich" (Böll) zu lesen und etwa den Film "Die Brücke" (Wicki) anzuschauen. Dadurch wurde mir der Schrecken und die Sinnlosigkeit des Krieges vor Augen geführt. Fortan setzte ich mich gründlich mit Fragen zu Krieg und Frieden auseinander bzw. beschäftigte mich überhaupt kritischer mit gesellschaftlichen Problemen.
Nach und nach verband ich das mit gesellschaftspolitischem Engagement in verschiedenen Basisorganisationen. Zudem wurde ich Mitglied in zahlreichen Organisationen der Friedens-, Ökologie- und Eine-Welt-Bewegung.
Nicht unerwartet gab auch die Bundeswehr noch keine Ruhe. Aus deren Sicht war ja mein Wehrdienst nur unterbrochen worden. 1975 musste ich wieder zur Nachmusterung beim Kreiswehrersatzamt in Stuttgart antanzen. Das Ergebnis lautete immer noch „vorübergehend nicht wehrdienstfähig". Aber 1977 wurde bei einer erneuten Untersuchung im Kreiswehrsatzamt dann doch wieder der Tauglichkeitsgrad "wehrdienstfähig" diagnostiziert. Mit der Feststellung: „Sie stehen somit für Wehrübungen und für den unbefristeten Wehrdienst im Verteidigungsfall im Rahmen Ihrer Verwendbarkeit zur Verfügung. Dies gilt auch für den Restgrundwehrdienst.“
Grund zum unmittelbaren Handeln sah ich noch nicht, weil ich die Wahrscheinlichkeit für äußerst gering hielt, zum restlichen Wehrdienst oder zu Wehrübungen eingezogen zu werden. Außerdem war ich damals mit anderen Dingen in meinem Leben zu sehr beschäftigt war, um unmittelbar zu handeln.
Doch in Ruhe ließ es mich nicht. Ich wollte meine innere Haltung zur Kriegsdienstverweigerung, die bereits seit vielen Jahren mit öffentlichem Friedensengagement verbunden war, auch ganz formal nach außen festgestellt wissen und deutlich machen: „Mit mir könnt ihr nicht mehr rechnen!“
Und so schrieb ich im Januar 1980 an das zuständige Kreiswehrersatzamt: „Hiermit beantrage ich meine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen gemäß Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland und gemäß § 25 des Wehrpflichtgesetzes.“
Mit der Eingangsbestätigung meines KDV-Antrags durch den „Prüfungsausschuß für Kriegsdienstverweigerer beim Kreiswehrersatzamt Stuttgart“ erhielt ich auch die Aufforderung, u.a. die näheren Gründe im Einzelnen mitzuteilen, die mich zur Kriegsdienstverweigerung veranlasst hätten.
Begründung meiner Kriegsdienstverweigerung
In meiner schriftlichen Begründung vom 19.2.1980 legte ich ausführlich dar, warum ich überhaupt zur Bundeswehr gegangen war und was ich dort erfahren hatte. Ich beschrieb meine tiefen Gewissenkonflikte, in die ich geraten war, insbesondere durch die Ausbildung zum Töten anderer Menschen. Ich erwähnte meine vorzeitige Entlassung aus dem Wehrdienst wegen meiner Erkrankung. Zudem verdeutlichte ich, dass mir u.a. durch die Lektüre von Antikriegsromanen namhafter Schriftsteller der Schrecken und die Sinnlosigkeit des Krieges vor Augen geführt worden sei. Diese Literatur habe mich sehr betroffen gemacht und mir sei klar geworden, dass ich nie in eine Situation kommen wolle, in der ich Menschen töten müsse. Wörtlich führte ich in meiner Begründung dann weiter aus:
„Die Ablehnung gegen jegliche Tötung von Menschen begründet sich bei mir neben einem humanen Denken aus meinem christlichen Glauben, zu dem ich vor einigen Jahren wieder zurückgefunden habe. Den Mittelpunkt dieses Glaubens an Jesus Christus sehe ich in einer radikalen Nächsten-, aber auch Feindesliebe. Dieser Jesus Christus hat für den Frieden gekämpft und gegen Gewalt gelebt. Diesem Christus versuche ich nachzufolgen.
Wenn ich also das „Selig sind alle, die auf Gewalt verzichten“ (Mt. 5,5) und das „ Selig sind die Friedensstifter“ (Mt. 5, 9) ernst nehme, kann ich unmöglich zur Waffe greifen. Selig sind die Friedensstifter - das ist der konkrete Friede zwischen Mensch und Mensch, zwischen
Volk und Volk. Aus diesem Grunde sehe ich mich auch der Gewaltlosigkeit verpflichtet.
Wenn das Evangelium des Friedens uns vom Gott des Friedens erzählt, der seine Menschheit vor der Selbstzerstörung durch gegenseitigen Hass und Krieg retten will, dann wird mir als Christ auch zugemutet zu sagen, dass ich von den Waffen und Massenvernichtungsmitteln nicht geschützt werden will. Der Zwang zur Teilnahme an der Tötung im Kriegsfalle würde mir, davon bin ich heute überzeugt, schwere Gewissenskonflikte bereiten. Aus meinem christlichen Glauben heraus sehe ich den Sinn meines Lebens überhaupt nur darin, Liebe zu verwirklichen.
Nach allem, was ich heute weiß und glaube, kann ich die Rüstung nicht mehr für den Schutz der Menschheit halten, sondern als einen ihrer gewaltigen Feinde. Rüstung führt immer wieder zum Krieg.
Die Hauptursache für die Vernichtung von Menschenleben – Krieg und Rüstung sind mit die häufigsten Formen - sehe ich in den wirtschaftlichen Interessen der Industrie und in einer tiefen Angst gegenüber anderen Menschen, die teilweise bewusst geschürt wird.
Deshalb wurde ein Rüstungswettlauf in Gang gesetzt, den ich eigentlich nur als glatten Wahnsinn bezeichnen kann. Dieser Wettlauf hält meiner Meinung nach einen Pseudo-Frieden und eine Pseudo-Sicherheit aufrecht. Denn ich kann die gegenseitige militärische Erpressung mit Menschenleben in unvorstellbarer Zahl nicht als echten Friedenswillen ernstnehmen. Sie garantiert nur den Tod. Ein Friede, der sich auf den Terror der Vernichtungswaffen gründet, ist in meinen Augen kein Friede.
Aufgrund der riesigen Summen für Rüstungsausgaben können viele soziale Notwendigkeiten nicht bewerkstelligt werden, und selbst ohne Krieg tötet die Rüstung Menschen in großen Massen, weil viele Milliarden für Rüstung und Militär buchstäblich in die Luft gejagt werden (seit 1960 weltweit die unvorstellbare Summe von 10 Billionen = 10 000 000 000 000 DM) und weil von den Industriestaaten teure Rüstungsexporte in die Länder der "Dritten Welt" getätigt werden. Allein von 1960-1976 stiegen die Militärausgaben in diesen "Entwicklungsländern" um 710 %, die Waffenexporte von den Industrie- in die "Entwicklungsländer" um 387%.
In Asien, Lateinamerika und Afrika dagegen verhungern jedes Jahr Millionen von Menschen (1978: 18 Mill. Kinder, 15 Mill. Erwachsene) oder verblöden durch Unterernährung. Wenn diese Riesensummen statt für die Rüstung zum Kampf gegen soziale Ungerechtigkeiten eingesetzt würden, müsste dies nicht sein. Die Lösung des rasend schnell auf uns zukommenden Nord-Süd-Konflikts – in dem die Zeitbombe eines 3. Weltkriegs bereits tickt - wäre ein wesentlicher Beitrag in Richtung auf eine friedlichere Zukunft.
Schon diese Gesichtspunkte würden ausreichen, um ein entschiedener Gegner eines jeglichen Militarismus zu sein.
Gegen jegliche Unterstützung des Militarismus spricht auch, dass die Bevölkerung der BRD militärisch nicht zu verteidigen ist.
So sagt selbst Bundeskanzler Schmidt: "Die Bundesrepublik ist nur um den Preis ihrer totalen Zerstörung zu verteidigen."
Der Versuch militärischer Verteidigung würde im Ernstfall in meinen Augen zu einem sinnlosen Aufopfern von nahezu der gesamten bundesdeutschen Bevölkerung führen. Ich kann diesem todbringenden Apparat jedenfalls nichts Positives abgewinnen.
Aus meinem christlichen Glauben heraus sehe ich den Sinn meines Lebens überhaupt nur darin, Liebe zu verwirklichen. Das bedeutet für mich auch, dass ich engagiert am Abbau jeglicher Gewalt und Gewaltstrukturen und für den Aufbau einer möglichst friedlichen Gesellschaft mitarbeite.
So war ich z.B. am Aufbau eines "Arbeitskreis Entwicklungspolitik“ in Nürtingen beteiligt, in dem ich auch heute noch intensiv mitarbeite; so bin ich seit 1978 Mitglied bei der "Aktion Selbstbesteuerung" (Friede durch gerechte Entwicklungspolitik), beim Internationalen Versöhnungsbund, bei der DFG/VK; außerdem habe ich im selben Jahr die Selbstverpflichtung „Ohne Rüstung leben" des AK Antimilitarismus von PRO ÖKUMENE unterschrieben in der es heißt: "Ich bin bereit, ohne den Schutz militärischer Rüstung zu leben. Ich will in unserem Staat dafür eintreten, dass Frieden ohne Waffen politisch entwickelt wird."
Hierzu gehört auch, dass ich mit meiner Tätigkeit als Lehrer in einer staatlichen Schule wieder aufgehört habe, weil ich durch die dort herrschenden Strukturen so viel Gewalt auf Kinder ausüben musste - die mir nicht genügend abbaubar erschien - dass das mein Gewissen stark belastete.
Ich erwähne diese Punkte nur, um zu zeigen, dass mir der Abbau von Gewalt und die Herstellung von möglichst viel Frieden sehr am Herzen liegen.
In diesem Engagement sehe ich einen meinem Gewissen verpflichteten Sinn - ganz im Gegensatz zur Beteiligung am Militärapparat, wo ständig von Entspannung und Frieden geredet, gleichzeitig die Rüstungsspirale aber unglaublich nach oben gedreht wird (vgl. z.B. Nachrüstungsbeschluss der NATO oder Erhöhung der westlichen Militäretats wegen dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan, etc.).
Den letzten Anstoß für meinen endgültigen Entschluss zur Kriegsdienstverweigerung erhielt ich durch den Film "Die Brücke", der im November 1979 im Deutschen Fernsehen lief (dieser Film berührte mich sehr tief) und durch die gegenwärtig sehr angespannte weltpolitische Stimmung - hervorgerufen durch den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan und die daraufhin erfolgten - überzogenen - westlichen Reaktionen - bei der ein Funken ausreichen kann, um einen neuen Weltkrieg mit unvorstellbaren Auswirkungen hervorzurufen. "Die Brücke" und die Krisenstimmung ließen mich nochmals konsequent über meine Einstellung zum Krieg nachdenken. Und da kam ich zu der festen Überzeugung, dass ich das Töten von Menschen tief verabscheue und deshalb an einem Krieg nicht teilnehmen kann.
Deshalb gebietet es mir mein Gewissen, den Kriegsdienst nach Artikel 4/3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland zu verweigern.“
Verhandlung vor dem Prüfungsausschuss für Kriegsdienstverweigerung
Nach dem Absenden meiner schriftlichen Begründung galt es abzuwarten, bis dann Anfang November 1980 die Ladung zur mündlichen Verhandlung über meinen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer vor dem Prüfungsausschuss beim Kreiswehrersatzamt für den 25. November 1980 einging. Dieser Termin passte mir ausgezeichnet, denn so konnte ich die Veranstaltungen unserer Nürtinger Friedenstage vom 17. – 26. November 1980 noch um eine „Veranstaltung“ mit einem persönlichen Friedensbekenntnis erweitern. Am Zustandekommen und an der inhaltlichen Gestaltung der ersten Nürtinger Friedenstage mit dem Motto „Frieden schaffen ohne Waffen“ war ich maßgeblich beteiligt. Wir hatten damals eine Tradition begründet, die in Nürtingen Jahr für Jahr fortgesetzt wurde und auch 40 Jahre später als „Eine-Welt-Tage und Friedenswochen Nürtingen“ weiter trägt.
Im Hinblick auf meine KDV-Verhandlung hatte ich mich durch gründliches Studium einschlägiger Literatur vorbereitet. Unter anderem hatte ich mich mit „Fangfragen“ auseinandergesetzt, die erfahrungsgemäß praktisch unabdingbar zu diesen Verfahren gehörten. „Fangfragen“ waren extrem konstruierte Gewaltszenarien, mit denen Verweigerer von den Prüfungskommissionen der Kreiswehrersatzämter konfrontiert wurden. Etwa in diesem Stil: "Was tun Sie, wenn die Russen einmarschieren und einer ihrer Freundin eine Kalaschnikow an den Kopf hält?"
Offensichtlich fühlte ich mich so gut vorbereitet, dass ich keine KDV-Beratung in Anspruch nahm, wie sie z.B. von der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstverweigerInnen (DFG-VK) angeboten wurde, deren Mitglied ich ja inzwischen geworden war. Im Hinblick auf die Verhandlung kam mir sicherlich zugute, dass ich inzwischen 29 Jahre alt war, mit einiger Lebenserfahrung ausgestattet und mit hinsichtlich meiner Kriegsdienstverweigerung einer sehr gefestigten Haltung. Das war jedenfalls meine Überzeugung. Doch jetzt galt es auch die Mitglieder des Prüfungsausschusses mit seinem Vorsitzenden aus der Bundeswehrverwaltung davon zu überzeugen. Und da gab es ja, wie ich aus sehr vielen persönlichen Berichten und vom Lesen her wusste, mehr oder weniger große Unwägbarkeiten. Zudem gab es zu jener Zeit eine Ablehnung von KDV-Anträgen von rund 40 Prozent.
Am 25.11.1980 erschien ich dann um 9:45 Uhr vor dem Prüfungsausschuss beim Kreiswehrersatzamt in Stuttgart. Sicherlich in einiger Anspannung und darauf eingestellt, mich unter Umständen einem stundenlangen Inquisitionsverfahren unterziehen zu müssen. Ehrlich gesagt, erinnere ich mich an Details nur noch sehr schemenhaft. Besonders einer der Beisitzer brachte mir schon durch seine Haltung und Art der Fragestellung sein Wohlwollen rüber. Eine der typischen Fangfragen wurde mir vom Ausschussvorsitzenden gestellt, an die ich mich aber nicht mehr erinnere. Auf die Frage, was ich bei Ablehnung meines Antrags machen würde, versicherte ich, dass ich auf keinen Fall mehr zum Wehrdienst antreten und eher ins Gefängnis gehen würde (ich hatte mich vorher durchaus auch schon mit der Möglichkeit einer Totalverweigerung befasst). Und kaum, dass ich mich versah, wurde ich auch schon gebeten, den Raum wieder zu verlassen und draußen das Beratungsergebnis abzuwarten. Noch nicht einmal eine halbe Stunde war vergangen. Mit dem Gefühl, dass es gut gelaufen war und in einer gewissen Hochstimmung nahm ich also draußen Platz. Gleichzeitig musste ich meine Euphorie selber bremsen. Ich sagte mir: „Michael, was machst du denn, wenn die deinen KDV-Antrag nun ablehnen?“ Allzu viel Zeit zum Grübeln blieb aber nicht. Ich wurde wieder zurück in den Verhandlungsraum gebeten. Der Vorsitzende gab das Ergebnis bekannt: Meinem Antrag auf Kriegsdienstverweigerung wurde stattgegeben. Mit dem schönen Gefühl, dass nun auch meine persönliche Ergänzungsveranstaltung zu unseren Nürtinger Friedenstagen sehr gut verlaufen ist, konnte ich mich auf die Heimfahrt machen. Ein paar Wochen später erhielt ich dann noch einen schriftlichen Bescheid, dem schwarz auf weiß zu entnehmen war, es sei entschieden worden: „Der Wehrpflichtige ist berechtigt, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern.“
Aufkündigung der Wehrüberwachung
Das war’s aber immer noch nicht ganz. Denn ich unterlag noch weiter der Überwachung durch das Bundesamt für Zivildienst. Damit wurde ich auch für den militärischen „Ernstfall“ eingeplant. Als äußeres Zeichen hierfür musste ich weiter den Wehrpass aufbewahren. Eine öffentliche Verweigerungsaktion im Rahmen der 1. Friedenswoche im Landkreis Sigmaringen im Mai 1982 nahm ich dann zum Anlass, meinen Wehrpass zurück an dieses Bundesamt zu senden. Dies verband ich mit einer Erklärung, mich nicht länger von diesem Bundesamt überwachen und schon gar nicht in militärische Planungen miteinbeziehen zu lassen. Soweit ich mich erinnere, habe ich darauf keine Antwort erhalten. Wie auch immer dies einzuschätzen ist: Ich hatte nun das Gefühl, mit Wehrpflicht und Kriegsdienst endgültig abgeschlossen zu haben.
Bedeutung meiner Kriegsdienstverweigerung für mein weiteres Leben
Wenn ich heute auf meine Kriegsdienstverweigerung zurückblicke, dann muss ich einerseits sagen, dass es bis dahin ein ganz gewaltiger Umweg über die Bundeswehr war, äußerst schmerzhaft und auch schockierend. Aber dadurch sind mir die Augen dafür geöffnet worden, dass unkritische Pflichterfüllung, der Drang nach Anpassung und blinder Gehorsam allzu leicht dazu führen können, Dinge zu tun und mitzutragen, die man im Grunde zutiefst verabscheut. Mir wurde bewusst, wie fatal und undemokratisch es ist, sich nicht um Politik zu kümmern und diese nur gewählten Stellvertreter*innen zu überlassen. Ich hatte erfahren, dass die Bundeswehr keineswegs etwas mit wirklichem Frieden in einem positiven Verständnis zu tun hat, schon allein deshalb nicht, weil sie, wie jede Armee, auf hierarchischen Strukturen und auf unmenschlichen Umgangsformen aufbaut, die alles andere als zivilisiert und friedlich sind. Und ich hatte erfahren, dass unsere auf ihre Zivilisation so stolze Gesellschaft eine zutiefst barbarische Außenpolitik betreibt. Denn wenn sich Personen und Gemeinschaften nur durch Töten anderer verteidigen können, dann herrscht Barbarei!
Aber diese einschneidende Erfahrung mit der Bundeswehr hat mich zum Kriegsdienstverweigerer gemacht. Besser gesagt, hat zunächst mein Körper sozusagen den Kriegsdienst verweigert, indem er seine Mitarbeit versagt und mich in eine tiefe Krise gestürzt hat. Dadurch bekam ich einen nachhaltigen Anstoß, auch ganz bewusst zum Kriegsdienstverweigerer zu werden. Und meine Kriegsdienstverweigerung habe ich als Verpflichtung verstanden, jedem Krieg und seiner Vorbereitung ganz grundsätzlich zu widerstehen. Weil ich meine Kriegsdienstverweigerung mit aktivem Pazifismus verbunden habe, bin ich 1978 Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstverweigerInnen (DFG-VK) geworden und habe die Grundsatzerklärung unterschrieben: „Der Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Ich bin daher entschlossen, keine Art von Krieg zu unterstützen und an der Beseitigung aller Kriegsursachen mitzuarbeiten.“ Bei dieser Organisation war ich dann z.B. acht Jahre lang Abrüstungsreferent im Landesvorstand von Baden-Württemberg. Ebenfalls 1978 bin ich beim pazifistisch-gewaltfreien Internationalen Versöhnungsbund Mitglied geworden, bei dem ich u.a. acht Jahre lang Vorsitzender der Landesgruppe Baden-Württemberg war. Mit dem von mir 1993 maßgeblich mitgegründeten Verein Lebenshaus Schwäbische Alb – Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie engagiere ich mich ebenfalls für gerechten Frieden und eine lebensfähige Umwelt.
Meine Grundsatzentscheidung für die Kriegsdienstverweigerung war also eine, die mir Motivation geliefert hat und weiter liefert, mich gegen Krieg und seine Vorbereitung zu engagieren und mich an der Suche nach zivilen, gewaltfreien Wegen zu beteiligen. Dass meine Bundeswehrzeit dafür einen wirklich nachhaltigen Anstoß gab, dafür bin ich trotz aller damit verbundenen Probleme dankbar.
(Februar 2021)
Michael Schmid, Jg. 1951, ist Sozialwissenschaftler (M.A.) und Pädagoge, Geschäftsführer von Lebenshaus Schwäbische Alb e.V. sowie bei diesem Verein als „Referent für Friedensfragen“ angestellt und Mitglied der Kerngruppe im Lebenshaus in Gammertingen. Er ist seit Mitte der 70er-Jahre in der Eine-Welt-Bewegung, Ökologie- und Friedensbewegung engagiert. Mitglied ist er u.a. in der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), im Internationalen Versöhnungsbund, beim Bund für Soziale Verteidigung und im Komitee für Grundrechte und Demokratie. Er hat an zahlreichen gewaltfreien Aktionen teilgenommen und musste sich wegen der Teilnahme an Aktionen des zivilen Ungehorsams einige Male vor Gericht verantworten. Für das Lebenshaus hat er u.a. rund 140 Mahnwachen und Protestkundgebungen in Gammertingen sowie mehrere hundert thematische Veranstaltungen organisiert. Er ist verantwortlicher Redakteur des vierteljährlich erscheinenden gedruckten Rundbriefs und des eNewsletters des Lebenshauses sowie der Websites www.lebenshaus-alb.de und www.kriegsdienstverweigerer-geschichten.de. Sammlung: Texte von Michael Schmid