Martin Höfflin-Glünkin (geb. 1955): 

Kriegsdienstverweigerung prägte meine eigene Biographie

Von Martin Höfflin-Glünkin

 

Im September 1973 stellte ich meinen ersten Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer beim Freiburger Kreiswehrersatzamt. Mir schien dies zur damaligen Zeit für einen Christen selbstverständlich, erlebte aber schon bald, dass diese „Selbstverständlichkeit“ mit einigen Hürden verbunden war. 

 

Aufgewachsen bin ich in einer Großfamilie mit (neben mir) vier Schwestern und drei Brüdern auf einem Bauernhof in der Nähe von Freiburg. Als ich zehn Jahre alt war, zogen wir aus dem Dorf in einen Aussiedlerhof. Die „Gesellschaft zur Förderung der inneren Kolonisation“ ermöglichte diese Modernisierung im Rahmen eines Programms der EWG. „Wachsen oder weichen“ war das Motto dieser „Grünen Revolution“. Meine Eltern gaben mit dem Umzug den Kuh- und Schweinestall auf, spezialisierten ihren Betrieb auf Obst- und Ackerbau (Weizen und Mais). Obwohl wir ein paar hundert Meter außerhalb des Dorfes wohnten, lebten wir nicht abgeschieden. Unsere Eltern pflegten ein offenes Haus. Nach meiner Erinnerung saß bei fast jedem Mittag- oder Abendessen noch mindestens ein Gast mit am Tisch – entweder ein Gast der Eltern oder, noch häufiger, ein Gast von uns Geschwistern. Mit auf dem Hof wohnten noch die Großeltern väterlicherseits, sowie eine meiner Tanten in der Zeit ihres Heimaturlaubs. Die meiste Zeit lebte sie als Missionsschwester in Äthiopien. 

 

Der christliche Glaube war nicht nur meiner Tante wichtig. Großvater erzählte gerne und wir hörten – solange wir jung waren – gerne zu. Biblische Geschichten gehörten zu seinem Repertoire. Der sonntägliche Kirchgang war über die Konfirmandenzeit hinaus für uns alle selbstverständlich – ebenso die Beteiligung in der Jungschar, und nach der Konfirmation in einer der Jugendgruppen. Der mit meinem Vater befreundete Pfarrer und eine Gemeindediakonin sorgten für eine sehr lebendige und attraktive Jugendarbeit. 

 

Dass in der Erziehung meiner Eltern und Großeltern eine gewisse Strenge bestimmend waren, relativierte sich in der Pubertät. Schon damals – und noch mehr im Rückblick – beeindruckte mich, wie sehr sich unsere Eltern auf unsere Gedanken einließen und uns in der „Individuation“ unterstützten. Mit der Konfirmation wurden wir als erwachsene Partner akzeptiert und in der Eigenverantwortung für den eigenen Lebensweg stets bestärkt – auch in der Entscheidung für die Kriegsdienstverweigerung. Keiner von uns vier Brüdern ging zur Bundeswehr.

 

Ich wusste, dass auch mein ehemaliger Jungscharleiter und ein weiteres Vorbild aus der Gemeindejugend statt den Wehrdienst den Zivildienst geleistet hatte. Über ihre oder meine Kriegsdienstverweigerung sprachen wir dennoch so gut wie nicht. Vermutlich waren wir alle der Meinung, eine Gewissensentscheidung sei eine ganz persönliche Angelegenheit, die letztlich keinen anderen etwas anging. Ganz bewusst wollte ich jedenfalls meine Begründung für das Anerkennungsverfahren auch alleine formulieren und mich nicht von Gleichgesinnten beeinflussen lassen. Die Begründung war entsprechend kurz. Auch zur Anhörung vor dem Prüfungsausschuss ging ich allein. „Die werden schon spüren, dass meine Kriegsdienstverweigerung echt ist.“ Sie spürten es nicht, stellten wenige Fragen und ich selbst hatte auch nicht den Eindruck, meiner Begründung (eine knappe Din A4-Seite) noch mehr hinzufügen zu müssen. Der Vorsitzende protokollierte meine Antworten (ohne die Fragen). Als er das „Protokoll“ am Schluss der Anhörung verlas, waren zwar meine Aussagen korrekt wiedergegeben, aber meine Haltung kam darin nicht zum Ausdruck. Dass ich nach einer kurzen Beratungspause des Prüfungsausschusses meine Ablehnung erfuhr, hat mich nach dieser Anhörung nicht überrascht, aber erschüttert. Ich fühlte mich absichtlich missverstanden. 

 

Damals besuchte ich das Technische Gymnasium in Freiburg. Einem befreundeten Klassenkameraden war es bei seiner Anhörung ähnlich ergangen. Da die Anhörung unser Gewissen nicht verändert hatte, versuchten wir beide eine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer bei der Prüfungskammer zu erreichen. Mein Kumpel suchte Unterstützung bei der DFG-IDK in Freiburg, nahm mich auch einmal mit dorthin. Das dort vertretene Weltbild war mir fremd. Ich war trotz der schlechten Erfahrung in der ersten Anhörung davon überzeugt, dass es das Beste sei, mich nicht „manipulieren“ zu lassen, schrieb die Begründung neu und entschied mich wieder dazu, ohne Beistand in die Verhandlung zu gehen. Diese 2. Verhandlung hat mein Vertrauen in unsere demokratischen Strukturen nachhaltig erschüttert. Während mein Antrag vor dem Prüfungsausschuss mangels Ausführlichkeit als „nicht begründet“ zurückgewiesen wurde, trieb mich in der Prüfungskammer der Vorsitzende regelrecht in die Ecke und beschimpfte mich sogar. Ich sehe noch heute, wie er einmal aufsprang, das Fenster öffnete und mich mit den Worten „Und Sie wollen ein Gewissen haben, junger Mann!“ anschrie. Ich hatte auf die Schilderung einer Nothilfe-Situation (die sprichwörtliche „Freundin nachts im Park“ war in meinem Fall die bedrohte jüngere Schwester) ausgesagt, dass ich den Angreifer nicht töten würde. Als ich nach der Beratungspause durch das Gremium deren Beschluss hörte: „Der Antragsteller ist nicht berechtigt, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern“, brach ich in Tränen aus – obwohl mir in der Beratungspause klar geworden war, dass es so kommen würde. 

 

Diese zweite Ablehnung im Oktober 1975 stürzte mich in eine tiefe Krise. Vom Technischen Gymnasium war ich mit der Fachhochschulreife abgegangen, absolvierte ein Diakonisches Jahr in einem Kinderheim. Wie sollte es jetzt beruflich weitergehen? Gab es eine Chance, vor dem Verwaltungsgericht doch noch als Kriegsdienstverweigerer anerkannt zu werden? Und falls nicht, was dann? Wie lange wird sich das ganze Verfahren noch hinziehen? Ich sah eine Möglichkeit darin, „Entwicklungshelfer“ zu werden, und bewarb mich beim Deutschen Entwicklungsdienst um einen Vorvertrag. Auch diese Hoffnung zerschlug sich. Nach einem mehrtägigen Auswahlverfahren in Berlin kassierte ich auch für diesen Weg eine Absage. Die Ablehnung vor dem Bewerbungsgremium kam ganz unerwartet und löste in mir Gefühle der Hoffnungslosigkeit aus. Dass ich vor diesem Gremium nun auch zu weinen begann, beschämte mich zudem. Damit schienen alle Möglichkeiten, nicht zur Bundeswehr gehen zu müssen, verbaut.

 

Die Krise sei eine Chance, sage auch ich heute. Damals sah ich allerdings eher düster in die persönliche Zukunft, suchte beim Gemeindepfarrer Rat. Auf Umwegen landete ich so bei Ullrich Hahn, der damals noch in Freiburg wohnte und dafür bekannt war, als Rechtsanwalt und kirchlicher Beistand Kriegsdienstverweigerer zu begleiten. Wir vereinbarten einen Termin für ein persönliches Treffen. Ich hatte die Uhrzeit falsch in Erinnerung, klingelte eine Stunde zu früh an seiner Haustür. Dass er nicht öffnete, gab meiner Krise einen neuen Schub. Ich schrieb ihm eine Notiz, dass ich es mir jetzt anders überlegt hätte und statt den Klageweg zu beschreiten, doch zur Bundeswehr gehen würde. Gott sei Dank, gab sich Ullrich damit nicht zufrieden, sondern schrieb mir umgehend eine Karte und ermutigte mich dazu, nicht so schnell aufzugeben. Seine Ermutigung veränderte alles. Ich schöpfte neuen Mut, mit seiner Unterstützung doch noch eine Lösung zu finden. Er formulierte mit mir eine Klage vor dem Verwaltungsgericht gegen die Entscheidungen der Prüfungsgremien. Damit hatte ich wieder eine Chance.

 

Ich war nicht der einzige Kriegsdienstverweigerer, den Ullrich unterstützte. Neben seiner juristischen Begleitung lud er uns zu gemeinsamen Treffen ein, organisierte Seminare über Gewaltfreiheit, empfahl diverse Bücher und Zeitschriften und verschaffte uns so einen Zugang zur christlichen Friedensbewegung. Die erste Gruppe, die ich durch Ullrich kennenlernte, war die Freiburger Ortsgruppe des Versöhnungsbundes. Die Gruppe wurde schnell zu meiner neuen geistigen Heimat und mit Einzelnen aus der damaligen Zeit bin ich bis heute verbunden. Besonders prägend waren für mich neben den Gruppentreffen auch die Wochenendseminare, die Ullrich nach seinem Umzug im Gemeindehaus seiner Heimatgemeinde Villingen durchführte. So wuchs ich mehr und mehr in die christliche Friedensbewegung hinein. Mein Leben schien endlich stimmig zu werden, die Erziehung im Elternhaus, die Erfahrungen in der Kirchengemeinde und die jetzige Lebenssituation waren wieder im Einklang. Mir und uns war es ein Anliegen, ein glaubwürdiges Christsein zu praktizieren. 

 

Beruflich war ich in der ersten Phase dieser neuen „Beheimatung“, zusammen mit meinem Bruder Jörg und dem Kumpel aus dem Technischen Gymnasium, als Praktikant für ein Jahr im elterlichen Betrieb tätig. In einem von uns gründeten „Ökumenischen Arbeitskreis Frieden“ versuchten wir die Versöhnungsbund-Ideen in unserem Dorf umzusetzen. Wir handelten mit fairen Produkten der frisch gegründeten Gesellschaft zur Förderung der Partnerschaft mit der Dritten Welt (gepa), organisierten Veranstaltungen zur Atomenergie (das geplante AKW Wyhl war 35 km entfernt) und überzeugten den Vater davon, eine Solaranlage auf das Hausdach zu setzen. Nach diesem Jahr zog ich mit meinem Bruder Jörg nach Witzenhausen und begann dort an der Gesamthochschule Kassel das Studium der internationalen Agrarwissenschaften. Dort erhoffte ich mir mehr über technisch einfachere Landbaumethoden zu erfahren. War es mehr Glück, mehr meine Faulheit, der Konsum von Marihuana oder die Zukunftsangst, die mich dazu führten, das Studium zu vernachlässigen? Stattdessen gründete ich mit Gleichgesinnten einen kleinen Bioladen und demonstrierte mit ihnen in Brokdorf und Grohnde gegen die Atomkraftwerke. Vielleicht war es alles zusammen, verbunden mit der Enttäuschung über den Studiengang, der so anders als erwartet war. Nicht Subsistenzlandwirtschaft wurde gelehrt, sondern das genaue Gegenteil. Die „Grüne Revolution“ mit Chemie und Technik galt damals neu als Patentrezept gegen den Hunger in der Welt. 

 

Nach einem Jahr, im Herbst 1977, ging ich zurück in den elterlichen Betrieb. Das Gesundheitsamt hatte bei einer Routineuntersuchung, damals für Betreiber von Bioläden vorgeschrieben, auf meiner Lunge Schatten entdeckt. Die nicht ganz eindeutige Diagnose lautete Tuberkulose. Die Mitarbeit auf dem Hof war damit stark reduziert und ich konnte mich erneut im Arbeitskreis Frieden engagieren, Kurse zum biologischen Landbau besuchen und mich autodidaktisch in der Kräuterheilkunde fortbilden. Ich erlebte dieses Jahr als großes Privileg. Mit dazu beigetragen hat auch, dass Dr. Ulrich Duchrow in unsere Kirchengemeinde kam. Zuvor leitete er die Studienabteilung im Lutherischen Weltbund. Als Einstieg in seinen landeskirchlichen Dienst wirkte er in unserer Kirchengemeinde mit und wurde schnell zu meinem guten Freund. Er ließ uns teilnehmen an seinem großen Wissen und Engagement und lud höchst interessante Persönlichkeiten aus „aller Herren Länder“ in die Gemeinde ein. Sein ganz besonderes Geschenk an mich war eine Einladung an den gleichaltrigen südafrikanischen Anti-Apartheids-Aktivisten Jabu Ngwenya, sich ein paar Monate in unserer Gemeinde von seiner Folterhaft zu erholen. Was Nachfolge Jesu konkret bedeuten kann, lernte ich durch Jabu auf neue Art kennen. Seine politischen Analysen und seine Menschlichkeit haben mich sehr beeindruckt. Welch hohen Preis bezahlte er für seinen Glauben im Unterschied zu mir! Ein „wiedergeborener Christ“ wollte ihm im Gefängnis den Teufel austreiben. Gemessen an seiner Folterhaft, kamen mir nun meine eigenen Erfahrungen im KDV-Anerkennungsverfahren wie ein leichter Spaziergang vor. 

 

Meine Kriegsdienstverweigerung, bzw. deren Konsequenzen, wirkte längere Zeit im Hinter- oder Untergrund. Eine Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht fand trotz eingereichter Klage nicht statt. Die sozialliberale Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte die Gewissensprüfung im Juli 1977 abgeschafft. Dadurch war ich im Sommer und Herbst des Jahres als Kriegsdienstverweigerer anerkannt. Der oppositionellen CDU/CSU wurde bei ihrer Klage gegen dieses „Postkartenverfahren“ vor dem Bundesverfassungsgericht Recht gegeben, und weil ich in dieser Zeit keinen Zivildienst angetreten hatte, wurde auch mir im Jahr 1978 das Recht auf Kriegsdienstverweigerung wieder aberkannt. 

 

Inzwischen hatte sich die gesellschaftliche Situation sehr verändert und ich mich mit ihr. Ich war „politisiert“ und in meiner pazifistischen Haltung gefestigt. Auf der anderen Seite nahmen die Spannungen in der Ost-West-Konfrontation merklich zu und mit ihr die zivile Komponente der Abschreckung. Durch Egon Spiegel und andere radikale Kriegsdienstverweigerer war mir in der Zwischenzeit auch die Einbindung des Zivildienstes in die militärische Kriegsplanung bewusst geworden. Auch mir schien es nur ein gradueller Unterschied zu sein, mich als Zivildienstleistender dann doch in die Militärplanung integrieren zu lassen. Als das Verwaltungsgericht im August 1978 meine Klage gegen die Entscheidungen der Prüfungsgremien wieder in Erinnerung rief, war ich zum Entschluss gekommen, diese Klage nicht weiter zu verfolgen. Ein Gewissen lässt sich nicht prüfen. Wohin der Versuch führt, hatte ich ja zweimal traumatisch erlebt. Mir war es nicht mehr möglich, für eine erneute Gewissensprüfung den Klageweg weiter zu beschreiten. Mit Unterstützung von Ullrich Hahn nahm ich im September 1978 die Klage zurück und rechnete jetzt damit, unter Umständen dafür ins Gefängnis gehen zu müssen. 

 

Meine Eltern und Geschwister hatten meinen Weg miterlebt, hatten die Welt, in die ich in den vergangenen Jahren hineingewachsen war, kennen und schätzen gelernt. Noch heute spricht meine Mutter manchmal von der eindrücklichen Begegnung mit Hildegard Goss-Mayr, als sie auch einmal zu einem Treffen auf unseren Hof kam. Sie erinnert sich gerne mit mir an die Nachmittage und Abende, wenn Freunde aus der Friedensszene zu Besuch kamen und wir zusammen schöne Lieder sangen. Meine Mutter ist bestimmt keine Revoluzzerin, und doch sagte sie vor wenigen Wochen im Rückblick auf die damalige Zeit zu mir: „Junge Menschen müssen auch mal über das Ziel hinausschießen, und sich nicht gleich wie Großväter verhalten.“ Weil sie meinen Entschluss, den Klageweg nicht weiter zu verfolgen und deshalb notfalls ins Gefängnis zu gehen, als stimmig erlebten, trugen meine Eltern und Geschwister meine Entscheidung mit. In der Kirchengemeinde war unser Engagement hingegen nicht unumstritten. Da wir als Familie aber darin stark verwurzelt waren und mein Vater zu der Zeit nicht nur im Kirchen- und Posaunenchor mitwirkte, sondern sogar Vorsitzender des Kirchengemeinderates war, gab es neben der Kritik auch vielerlei Unterstützung. Ich fühlte mich jedenfalls auch dort mit meiner Position weitgehend akzeptiert, was mir Sicherheit gab. Ende 1978/Anfang 1979 rechnete ich damit, dass die Bundeswehr sich wieder melden würde. Das war auch so, aber es kam ganz anders als erwartet.

 

Im Februar 1979 erhielt ich eine Einberufung zum Grundwehrdienst in Immendingen auf den 2. April. 

 

Zwei Tage nachdem dieser Einberufungsbescheid zugestellt wurde, starb mein Vater an einem Herzinfarkt. Fast die ganze Familie war dabei, denn es ereignete sich bei der Einweihungsfeier des neuen Gemeindehauses. Ich selbst hatte vier Wochen zuvor eine Beschäftigung bei Wolfgang von Haller, einem Pionier des ökologischen Landbaus, angetreten und wollte an diesem Wochenende meine restlichen Utensilien vom Hof in die neue Heimat abholen. Mein jüngerer Bruder Christoph, der unseren Hof übernehmen wollte, war gerade 18 Jahre alt, meine jüngste Schwester fünf, und neben den anderen Geschwistern mussten auch meine Mutter und die Großeltern von den Erträgen des Betriebes leben. Ich war der älteste Sohn (eine Schwester war ein Jahr älter) und mir war sofort klar, dass ich nun auf dem Hof gefragt war. Dies war auch deshalb ganz schlüssig, weil ich schon zwei Jahre dort mitgearbeitet hatte und deshalb das „Geschäft“ am Besten kannte.

 

Den Tod meines Vaters und meine Verantwortung für den Hof und die ganze Familie teilte ich dem Kompaniechef in Immendingen mit. In diesem Schreiben begründete ich gegenüber den Institutionen der Bundeswehr erstmals ausführlicher meine Gründe für die Kriegsdienstverweigerung. Eine Kopie des Briefes brachte ich einem Mitarbeiter des Kreiswehrersatzamtes persönlich vorbei und kam dabei mit ihm ins Gespräch. Das Amt wertete mein Schreiben als Antrag auf Zurückstellung und auch als Neuantrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer. Die Zurückstellung wurde sogleich gewährt, der „Antrag“ an den Prüfungsausschuss weitergleitet. 

 

Im Juni 1980 wurde ich zu einer Anhörung vor den Prüfungsausschuss geladen, ohne dass ich dies beantragt hatte. 

 

Die Ladung vor den Prüfungsausschuss gab mir erneut die Möglichkeit, mein eigenes Gewissen auf dem Hintergrund der Abschreckungspolitik noch einmal zu überprüfen und die eigenen Gedanken hierüber zu Papier zu bringen. Ich folgte der Ladung. Das Gremium war jetzt anders zusammengesetzt, die Vorsitzende eine sympathische Frau. Nach einem kurzen gedanklichen Austausch forderte mich die Vorsitzende dazu auf, der Form halber jetzt noch einen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer zu stellen. Ich erklärte, dass ich mich nach meinen eigenen Erfahrungen mit Gewissensprüfungen nicht dazu entschließen könne, noch einmal einen Antrag auf Gewissensprüfung zu stellen und wies auf den Zusammenhang zwischen Wehr- und Zivildienst hin. Sie sagte, dass sie dies bedaure und bot mir an, dies im Wartezimmer noch einmal zu überdenken, da ich ohne einen formalen Antrag mit einer Einberufung zur Bundeswehr rechnen müsse. Ich verzichtete auf die Bedenkzeit, händigte den Ausschussmitgliedern eine Kopie meiner Überlegungen aus und bat, diese auch zu den Akten zu nehmen. Die „Verhandlung“, die offiziell keine war, dauerte eine dreiviertel Stunde. Ich hatte erstmals den Eindruck, wenigstens gehört worden zu sein.

 

Mit Schreiben vom 24. Oktober 1980 erhielt ich die Mitteilung vom Kreiswehrersatzamt, dass meine Einberufung zum 1. April 1981, ggf. als „Ersatz für Ausfälle“ auch schon zum 5. Januar, vorgesehen sei. Eventuelle gesundheitliche oder andere Hinderungsgründe solle ich ggf. melden.

 

Ich nahm das Schreiben zum Anlass, erneut das direkte Gespräch zu suchen und ging drei Tage später ins Kreiswehrersatzamt. Der zuständige Beamte war zum Gespräch bereit, erinnerte sich sogleich an meinen „Fall“. In meinen Notizen von damals lese ich heute (zu meiner eigenen Überraschung) folgendes: „Herr X sagte, es sei wohl kein Zurückstellungsgrund mehr vorhanden, sodass es wohl auch keine gesetzlichen Möglichkeiten zur Zurückstellung mehr gebe, aber vielleicht ließe sich Bundeswehr-intern etwas machen. Mit dieser Bemerkung ging er mit mir zu Herrn Y. Ihm erzählte ich, dass ich Kriegsdienstverweigerer sei, nun aber zum 1. Januar eine Einberufung zur Bundeswehr bekommen habe. Da ich derzeit aber noch meinen Bruder auf dem Hof vertreten müsse, bäte ich darum, die ganze Sache auf Juli 1981 zu verschieben. Obwohl ich ihm versicherte, dass ich auch im Juli 1981 noch Kriegsdienstverweigerer sei und einem Einberufungsbefehl auch dann nicht folgen würde, stimmte er einer Verschiebung bis zum gewünschten Termin zu und verfasste dazu einen kurzen Bericht. (…) Die Macht der Beamten auf dem Kreiswehrersatzamt scheint mir jetzt größer, als vor meinem Besuch. Als ich vor 1 ½ Jahren schon einmal dort war, hatte mich Herr X schon gefragt, ob ich wolle, dass er meine Akten verschwinden lasse. Im Unterschied zu damals scheint mir heute, dass diese Frage damals gar nicht nur rhetorisch gemeint war.“ Tief beeindruckt von der Begegnung, und der mündlichen Zusage auf Verlängerung der Zurückstellungszeit, verließ ich das Kreiswehrersatzamt. 

 

Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, aber eine große Hilfe. Die Verlängerung meines Einsatzes auf dem Hof gab meinem Bruder die Möglichkeit, sich weiter auf seine Hofübernahme vorzubereiten und mir die Chance, eine Gehilfenprüfung als Obstgärtner abzulegen, da ich dann genügend lange (6 Jahre) hauptberuflich in diesem Feld tätig war. 

 

Siebeneinhalb Jahre waren seit meinem KDV-Antrag vergangen, als ich Ende Februar 1981 wieder Post vom Kreiswehrersatzamt erhielt. „Nach den hier vorliegenden Unterlagen stehen Sie zu einem der nächsten Einberufungstermine für den Grundwehrdienst zur Verfügung. Da Ihre Musterung über zwei Jahre zurückliegt, bitte ich Sie, eventuelle Änderungen in ihren persönlichen Verhältnissen auf der Rückseite bzw. dem beigefügten Formblatt SanBW 0120 anzugeben und ggf. die Unterlagen innerhalb von zwei Wochen zurückzusenden.“ 

 

Das Formblatt SanBW 0120 habe ich behalten und stattdessen folgendermaßen zurückgeschrieben: „Sehr geehrter Herr X! In Ihrem Schreiben vom 25. 2. 1981 bitten Sie mich, eventuelle Veränderungen meiner persönlichen Verhältnisse seit dem letzten Musterungstermin Ihnen zu melden. Dem möchte ich hiermit nachkommen. Zunächst einmal möchte ich mich nochmals bei Ihnen bedanken, dass Sie im Oktober bei unserem Gespräch sich bereit erklärten, mit einer Einberufung meinerseits bis im Juli diesen Jahres zu warten, damit wenigstens meine Familie durch die Einberufung nicht zu sehr belastet wird. Mein Bruder wird dann Mitte Juli seine Schule abgeschlossen haben, und dann wieder hier auf dem Hof arbeiten können. Wie ich Ihnen bereits im Oktober letzten Jahres mitteilte, und wie Sie vermutlich auch sonst meinen Akten entnehmen können, ist es mir nicht möglich, an der Grundausbildung teilzunehmen. Ich kann einen Dienst in der Bundeswehr mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Ich lege Ihnen eine etwas ausführlichere Begründung bei, die ich im Mai/Juni letzten Jahres für den Prüfungsausschuss zusammengestellt habe. Ich hoffe, es macht Ihnen keine Schwierigkeit, die etwas kleine Schrift zu lesen. Wenn Sie meine Gründe nicht verstehen können, bin ich gerne zu einem Gespräch bereit, falls Sie glauben, mich danach besser zu verstehen. Ich muss sagen, dass ich heute verwundert war, als ich heute den Brief von Ihnen bekam. Sie wissen doch, dass ich es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren kann, an einer Grundausbildung teilzunehmen. Trotzdem wollen Sie wissen, ob ich dazu gesundheitlich in der Lage bin. Ich weiß nicht, ob Sie mich nach Rücksprache mit meinem Hausarzt oder Facharzt für wehrdienstfähig halten. Ich möchte Ihnen aber nochmals sagen, dass die Bundeswehr mit mir nicht rechnen kann. Im Falle einer Einberufung sehe ich für mich keine andere Möglichkeit als die der Befehlsverweigerung und somit eines Strafprozesses, hoffe aber, dass dies nicht nötig sein wird. Mit freundlichen Grüßen, Ihr Martin Höfflin“

 

Die Nachmusterung fand am 10. April statt. Leider habe ich – abgesehen vom Bescheid – dazu keine Notizen aufbewahrt. An eine Untersuchung kann ich mich nicht erinnern. Sehr wohl aber an zwei Gespräche. Das erste Gespräch war zwischen einem Arzt und mir. In diesem Gespräch ging es um meine Vorerkrankungen und dadurch kam auch die Tuberkulose zur Sprache, die im Jahr 1977 diagnostiziert worden war. Diese ausgeheilte Erkrankung war jetzt Anlass dafür, dass mich der Arzt zu meiner großen Überraschung als „nicht wehrdienstfähig“ einstufte. Er schickte mich in einen Nebenraum zu einem Beamten. Ob es wiederum Herr X war, weiß ich leider nicht mehr. Aber ich sehe ihn mit meiner Akte mir gegenüber am Schreibtisch sitzend. Er blätterte die Akte kommentierend durch und rief so für ihn und für mich die vergangenen siebeneinhalb Jahre in Erinnerung. Er sei sehr erleichtert, dass mit dieser ärztlichen Entscheidung mein „Fall“ jetzt abgeschlossen sei, sagte er. Die Unterlagen würden vernichtet und ich könne getrost nach Hause gehen. Damit hatte ich nicht gerechnet, spürte aber auch die Glaubwürdigkeit seiner Worte. Ich war überaus dankbar. Was wäre gewesen ohne die Vorerkrankung? Wäre eine andere Brücke gebaut worden oder wäre ich tatsächlich, wie viele andere Kriegsdienstverweigerer, im Gefängnis gelandet? Hätte ich dies psychisch gut verkraftet? Jetzt war ich frei und feierte ein großes Fest auf dem Hof. Die Zukunft war wieder offen. Ich bewarb mich umgehend um einen Studienplatz für Religionspädagogik und Gemeindediakonie an der Evangelischen Fachhochschule in Freiburg. In diesem Studiengang sah ich die Möglichkeit, mich mit mehr Sachverstand für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung zu engagieren. Dass ich dann von 1993 bis 2003 als Landesjugendreferent in der landeskirchlichen „Arbeitsstelle Frieden“ tätig sein durfte, war dann ein „Geschenk des Himmels“. Wer weiß, ob ich ohne den durch die Prüfungsgremien des Kreiswehrersatzamtes verursachten „Hindernislauf“ so viel Sinn und Erfüllung in meinem Berufsleben gefunden hätte?!

 

Nachbemerkung

Dieser Bericht ist keine Autobiographie. Er zeigt einen Ausschnitt von wenigen Jahren meines Lebens unter dem Blickwinkel der Kriegsdienstverweigerung. In dieser Zeit gab es für mich auch ganz andere Aspekte des Lebens, die einmal mehr, einmal weniger im Vordergrund standen. Zweierlei Erfahrungen durfte ich aber nicht nur damals machen: 

 

  1. Ich bin privilegiert. Andere Menschen zu anderen Zeiten und/oder in anderen Ländern mit einer ähnlichen Gesinnung hatten und haben es unvergleichlich viel schwerer, diese Gesinnung zu leben.
  2. Ich bin beschenkt. In den Krisen meines Lebens, und auch in den Zeiten dazwischen, war ich nie allein. Immer gab es Menschen, die mir wichtige Impulse gaben oder die mich in schwierigeren Zeiten begleiteten. Nicht alle haben dieses Glück.

 (Februar 2021)