Klaus Zühlke-Robinet (geb. 1953): Von der Willens- zur Gewissensentscheidung. Mein langer Weg bis zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer
Von Klaus Zühlke-Robinet
Antragstellung – ja oder nein? [1]
Nach bestandener Facharbeiterprüfung Anfang 1972 stand im selben Jahr meine Musterung für die Bundeswehr an. Da ich einen Antrag für die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer stellen wollte, wusste ich, dass ich mich jetzt darum zu kümmern hatte. Ich wusste aber auch, dass meine Eltern, insbesondere mein Vater, davon überhaupt nichts hielten. Diese beiden Dinge musste ich unter einen Hut bringen. Ich möchte zunächst erklären, wie meine Entscheidung, verweigern zu wollen, entstanden ist. Aber lassen sich der Beginn dieser Entwicklung und der weitere Verlauf überhaupt datieren und beschreiben?
Einen ersten Impuls erhielt diese Entwicklung wohl durch einen Lehrer in meiner neunten Hauptschul-Abschlussklasse (1967/68) in Wernau. Mein Klassenlehrer Paul W., mit nur noch einem Arm kriegsversehrt aus dem Zweiten Weltkrieg nach Hause zurückgekehrt, war Pazifist und Mitglied der damaligen Deutschen Friedensunion.[2] Er ließ an jedem Schultag in der großen Pause von einer Schülerin oder einem Schüler die „Esslinger Zeitung“ bei sich zu Hause holen (er wohnte direkt neben dem Schulgebäude). In der Schulstunde nach der großen Pause las er die wichtigsten Schlagzeilen vor und ermunterte uns zur Diskussion.
Der nächste Schritt in dieser Entwicklung erfolgte während meiner Zeit bei der evangelischen Jugend in Wernau. Direkt nach meiner Konfirmation 1967 trat ich der dortigen Jugendgruppe der evangelischen Kirchengemeinde bei. Nach einiger Zeit wurde ich Jugendgruppenleiter, leitete dort selbst Bibelabende für Jugendliche sowie Jugendfreizeiten und Zeltlager. Ungefähr 1972/73 kam es zu Differenzen zwischen einigen Jugendgruppenleitern einschließlich mir, und dem evangelischen Pfarrer sowie dem Kirchengemeinderat, bezüglich der Ausgestaltung der Jugendarbeit. Zum Konflikt kam es wegen der von der evangelischen Jugend monatlich recht erfolgreich durchgeführten Samstags-Disco. Zu laut, zu viel Eng-Tanz-Musik und die Disco wäre sowieso keine christliche Jugendarbeit – so lauteten die Vorwürfe. Da eine Verständigung nicht gelang, gaben wir, mehrere Jugendgruppenleiter und ich, unsere Arbeit dort auf und verlegten sie ins kommunale Jugendhaus.
Ein weiterer Schritt erfolgte mit meiner im August 1968 begonnenen dreieinhalbjährigen Lehre zum Mechaniker in der Esslinger Maschinenbaufirma Boley & Leinen. Nach nur wenigen Monaten trat ich der IG Metall bei. Damit verlagerte sich mein Engagement mehr und mehr in die Gewerkschaft. So kandidierte ich während meiner Lehrzeit für das Amt des betrieblichen Jugendvertreters. In diese Funktion wurde ich zweimal gewählt. Außerdem nahm ich an örtlichen Gewerkschaftsversammlungen teil, besuchte Schulungen und Seminare und kandidierte für den damals neu aufzubauenden Ortsjugendausschuss der IG Metall, Verwaltungsstelle Esslingen. Es kamen weitere Funktionen hinzu, wie etwa meine Mitgliedschaft im DGB Kreisjugendausschuss Esslingen, dessen Vorsitzender ich einige Jahre war. In meiner damaligen Lehrfirma war „mein“ Betriebsratsvorsitzender Gerhard R. – als aktiver Gewerkschafter und SPD‘ler hatte er mich „mitpolitisiert“ – seinerzeit ehrenamtlicher Beisitzer eines Prüfungsausschusses für die Anerkennung von Kriegsdienstverweigerern. Natürlich suchte ich mit ihm das Gespräch, wie es am besten gelingen könnte, als Kriegsdienstverweigerer anerkannt zu werden. 1972 trat ich in die SPD ein und war sowohl in der Partei als auch bei den Jusos aktiv.
Auch in diesen Zusammenhängen spielte die Frage der Kriegsdienstverweigerung eine Rolle, das Thema beschäftigte mich. Es wurde auch in größeren Zusammenhängen diskutiert: über Militarismus, Auf- und Abrüstung und Atomwaffen. Mich interessierten besonders die Thesen zum zivilen Ungehorsam und Widerstand sowie zur sozialen Verteidigung. Das alles zusammen waren wohl die treibenden Motive für mein gesellschaftliches und politisches Engagement. In dieser Zeit lernte ich Verantwortung zu übernehmen, mich zu zeigen und einzumischen. Es waren also verschiedene Impulse und Entwicklungen, die zu meiner politischen, pazifistischen und humanistischen Haltung beitrugen.
Nach dem Ende meiner Lehrzeit im Frühjahr 1972 rückte der Zeitpunkt der Musterung näher und eigentlich beabsichtigte ich, noch vor meiner Musterung den Antrag auf Anerkennung auf Kriegsdienstverweigerung einzureichen. Ich war mir nicht sicher, wie mein Vater auf meine Mitteilung reagieren würde, dass ich den Kriegsdienst verweigern wollte.
Anfang 1972, also noch vor der Musterung, teilte ich dies meinem Vater mit und er bekam einen Wutanfall, der dazu führte, dass unser Verhältnis für viele Jahre zerrüttet war.[3] Für ihn war es undenkbar, dass ich verweigerte. Mein älterer Bruder stand seinerzeit vor der Beendigung seines Wehrdienstes – und nun wollte ich partout nicht dienen. Das verstand er einfach nicht. Mein Vater bekam zwar mit, in welchen (jugend-)politischen Kreisen ich mich bewegte, dass ich „linke“ Literatur las. Doch dass meine Einstellung mit meinem Antrag auf KDV offen nach „außen“ dokumentiert werden würde, ging ihm dann doch zu weit. Heute denke ich, vielleicht empörte es ihn, dass ich einfach so entscheiden konnte, nicht zur Bundeswehr zu gehen, während er als Soldat mit kaum 20 Jahren ohne Wenn und Aber eingezogen worden und nach Kriegsende für fünf Jahre in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten war.
Mein Vater hatte klare Vorstellungen davon, was für seine Kinder gut wäre. Dazu gehörte u.a., dass mir als Hauptschüler eine Freundschaft untersagt wurde, weil mein Freund auf der Mittelschule war, und als mir Englisch-Unterricht auf freiwilliger Basis angeboten wurde, meinte mein Vater, dass ich sowas nicht brauche. Doch er gab auch wichtige Orientierung. Er kümmerte sich darum, dass jedes seiner Kinder einen guten, ordentlichen Beruf erlernen konnte und er gab uns mit auf den Weg: wer arbeitet, gehört in eine Gewerkschaft.
Auch meine Mutter verstand mich nicht. Sie hielt mir vor, ich sei durch die älteren Gruppenleiter der evangelischen Jugend negativ beeinflusst worden. Sie sprach ohne mein Wissen beim evangelischen Pfarrer vor, um zu erreichen, dass ich nicht mehr im Sinne der KDV von den anderen beeinflusst werden sollte. Dass sie den Pfarrer aufsuchte, „beichtete“ sie mir einige Jahre später. Ich erinnere mich nicht mehr genau, aber es könnte durchaus sein, dass meine Eltern mir verboten hatten, weiterhin zur evangelischen Jugend zu gehen.
Seinerzeit ging es mir insbesondere darum, wie ich einen Weg finden konnte, mit der mich belastenden, verhärteten Situation im Elternhaus, wo ich ja noch wohnte, umzugehen. Auf alle Fälle schloss ich ein zweites Gespräch mit meinem Vater aus. Die angespannte Situation mit meinen Eltern brachte mich zunächst dazu, um des lieben Friedens willen doch zur Bundeswehr zu gehen. Also stellte ich zunächst keinen Antrag auf KDV. Meine Musterung erfolgte am 5. Oktober 1972 und ich wurde vom Musterungsausschuss beim Kreiswehrersatzamt Stuttgart für „tauglich“ erklärt. Damit hatte ich mit meiner Einberufung im Laufe des Jahres 1973 zu rechnen.
Bundeswehr und Prüfungsausschuss
Doch nach meiner Musterung trieben mich Zweifel bezüglich dieser Entscheidung um, und ich wollte mir selbst treu bleiben. Deshalb rang ich mich dazu durch, einen Antrag auf Anerkennung als KDV zu stellen. Jetzt war es mir egal, wie meine Eltern dazu standen. Soweit wie möglich ging ich meinen Eltern aus dem Weg, von ihnen erfuhr ich in dieser Zeit keinerlei Unterstützung.
Zwei Monate nach der Musterung reichte ich also den schriftlichen Antrag auf KDV beim Kreiswehrersatzamt Stuttgart ein. Der Eingang des Antrages wurde vom Kreiswehrersatzamt mit Schreiben vom 24.01.1973 bestätigt und zugleich einige allgemeine – durchaus hilfreiche – Hinweise gegeben, wie sich Antragsteller auf die Gewissensprüfung vorbereiten sollten.
Meine Einberufung erfolgte zum 1. April 1973. Anzutreten hatte ich auf der Schwäbischen Alb beim 2. Raketenartilleriebataillon 250 in Großengstingen. Damit begann mein Grundwehrdienst mit für mich zeitlich ungewissem Ausgang.
Damals war mir nicht klar, was mich insbesondere in der Grundausbildung erwarten würde. Vor meiner Einberufung hörte ich oft von „Gewaltmärschen“, Nachtalarmen und dass es am besten sei, den „Schleifern“ aus dem Weg zu gehen. Auch war ich unsicher darüber, wie ich als Kriegsdienstverweigerer in spe aufgenommen werden würde. Die Einberufung empfand ich als einen harten Einschnitt in mein politisches und soziales Engagement, denn das wurde jetzt auf „Null“ gesetzt. Im Nachhinein kann ich kaum rekonstruieren, ob den dortigen Soldaten und mir bewusst gewesen ist, dass mit den in Großengstingen stationierten Kurzstreckenraketen im Kriegsfall US-Atomsprengköpfe verschossen worden wären. Doch ich meine mich erinnern zu können, dass diese besondere Aufgabe dieser Bundeswehreinheit zu keinen Diskussionen unter uns Grundwehrdienstleistenden führte.
Kaum hatte ich die Bundeswehrstiefel angezogen, wurde meine Verhandlung vor dem Prüfungsausschuss auf den 4. April 1973, 10:15 Uhr in Stuttgart terminiert.[4] In der per Einschreiben zugestellten Ladung stand zudem, dass mein persönliches Erscheinen zu diesem Termin erforderlich sei.
Leider liegt mir die dem Prüfungsausschuss eingereichte schriftliche Begründung meines Antrages nicht mehr vor. Um hier doch einige Argumente meiner Begründung darlegen zu können, beziehe ich mich auf den Schriftsatz des Verwaltungsgerichtes Stuttgart zu meiner dritten Verhandlung bei meinem Bemühen um Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer.
Im Schriftsatz heißt es:
„Am 19.12.1972 hatte der Kläger seine Anerkennung als KDV beantragt, zur Begründung hat er angegeben:
Er sei gegen jede Gewaltanwendung. Jeden Krieg verurteilt er als Verbrechen an der Menschheit. Krieg bedeute Aufhebung der Menschenrechte und der Selbstbestimmung. Er könne sich nicht vorstellen, dass er auf einen Menschen nur deswegen schießen könnte, weil dieser in einem anderen Gesellschaftssystem lebe. Er arbeitet in einer Fabrik zusammen mit vielen Gastarbeitern. Es sei für ihn unvorstellbar, dass er auf diese Kollegen im Krieg schießen müßte. Man müsse versuchen, den Krieg in seinen Ursachen zu bekämpfen. Im Falle der persönlichen Notwehr würde er versuchen, den Angreifer lediglich kampfunfähig zu machen. Als Jugendvertreter im Betrieb versuche er auf Konflikte aufmerksam zu machen und sie zu beseitigen. Er sei aktives SPD-Mitglied und beteilige sich an Aktionen der Jusos. (…)“
Doch leider überzeugten meine Begründungen nicht.
Laut mir zugegangener schriftlicher Niederschrift zur Verhandlung vor dem Prüfungsausschuss ist wie folgt
„(…) entschieden worden:
1. Der Wehrpflichtige ist nicht berechtigt, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern.
2. Er hat nach Maßgabe des Gesetzes Wehrdienst zu leisten.
3. Das Verfahren ist kostenfrei.
(…) Gegen diesen Bescheid kann innerhalb einer Frist von 2 Wochen nach Zustellung Widerspruch beim Kreiswehrersatzamt Stuttgart (...) eingelegt werden. (…)“
Warum wurde mein Antrag abgelehnt? Dazu ist in der Niederschrift des Prüfungsausschusses folgendes ausgeführt:
„Der Antrag ist zulässig, jedoch nicht begründet.
(…) Unter einer Gewissensentscheidung (…) ist jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von „Gut“ und „Böse“ orientierte Entscheidung anzusehen, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernsthafte Gewissensnot handeln könnte. (…)
Auf Grund der mündlichen Verhandlung gelangte der Prüfungsausschuß nicht zu der Überzeugung, dass der Antragsteller eine Gewissensentscheidung gegen den Kriegsdienst im Sinne des Gesetzes getroffen hat. Aus dem Vortrag des Antragstellers, der nicht in der Lage war, dem Ausschuß eine Gewissensnot oder zumindest ein gewissensmäßiges Engagement vor Augen zu führen, war zu entnehmen, dass er keine Gewissens-, sondern eine Willensentscheidung getroffen hat. Seine Ausführungen bewegten sich zum Teil im Bereich verstandesmäßiger Zweckmäßigkeitsüberlegungen, die teilweise auch neben der Sache lagen. (…)
Anhaltspunkte dafür, dass seine zweckgerichteten Überlegungen sich zu einer Gewissensentscheidung verdichtet hätten, waren nicht erkennbar.
Der Antragsteller hat sich zwar mit verschiedenen moralischen Konfliktsituationen auseinandergesetzt. Seine Darlegungen wirkten jedoch schlagwortartig, angelernt und wenig detailliert. So machte er keine Angaben, auf welche Weise er den jeweiligen Angreifer kampfunfähig machen würde. (…) Überhaupt war den Ausführungen des Antragstellers ein gewissensmäßiges Engagement nicht abzuspüren. (…)
Demnach ist festzustellen, dass die Abneigung des Antragstellers gegen das Töten mit der Waffe nicht so stark ausgeprägt ist, daß ihn der Wehrdienst in einem Verteidigungskrieg in einen schweren Gewissenskonflikt stürzen und damit seine Gesamtpersönlichkeit ernsthaft geschädigt würde. Seine Abscheu vor dem Töten im Krieg ist nicht stärker ausgeprägt als bei anderen normal denkenden und empfindenden Menschen. (…)“
Während meiner Verhandlung wurde mir der „Bomberfall“ vorgelegt. Hierzu steht im Schriftsatz des Prüfungsausschusses:
„Auf die Darstellung des Bomberfalls:
Ich möchte verhindern, daß ich mit dem Töten im Kriege konfrontiert werde. Wenn ich auf das Flugzeug schießen würde, käme die Flugzeugbesatzung ums Leben. Da ich jedoch gegen das Töten von Menschen eingestellt bin, würde ich nicht schießen.
Leben bleibt Leben. Das Leben der Flugzeugbesatzung ist genauso viel wert wie die Menschenleben in der Stadt.
Einerseits würde ich die Besatzung, andererseits die Bevölkerung töten. Töten bleibt Töten. Ich könnte beide Verhaltensweisen vor meinem Gewissen nicht verantworten. (…)“
Im Ergebnis stellte der Prüfungsausschuss fest:
„Da der Antrag nach alledem nicht auf einer Gewissensentscheidung im Sinne des Gesetzes beruht, mußte er abgelehnt werden. (…)“
So zerplatzte meine Hoffnung, bereits in der „ersten Instanz“ anerkannt zu werden und das Kapitel „Bundeswehr“ so schnell wie möglich abschließen zu können. Gegen die Entscheidung des Prüfungsausschusses legte ich fristgemäß Widerspruch ein. Meinen begonnenen Wehrdienst musste ich weiter ableisten – Ende offen. Ich war gespannt, was jetzt auf mich als „Verweigerer im Wartestand“ zukommen würde. An der Grundausbildung nahm ich regulär teil, dazu gehörte auch die Schießausbildung. Meine Grundausbildung endete im Juni 1973 mit dem obligatorischen Gelöbnis der Soldaten, das ich ablehnte.[5] Das hatte zur Konsequenz, dass ich für den Rest meiner Dienstzeit von Beförderungen ausgeschlossen blieb und damit den Eingangsdienstgrad „Kanonier“ bis zum Ende meiner Dienstzeit behielt.
Heute vermute ich, dass ich wegen meines laufenden Anerkennungsverfahrens als KDV nach der Grundausbildung überwiegend im Innendienst eingesetzt wurde, zeitweilig war ich Fahrer des Kompaniechefs. Ebenso waren Nachtmärsche, Wachgänge oder nächtliche Alarme, Stubenappelle und mehrtägige Übungen plus Biwak Teil meiner Dienstzeit. Alles in Allem denke ich heute, dass ich trotz meines laufenden Anerkennungsverfahrens von allen Vorgesetzten und Kameraden gerecht behandelt wurde.
Vor der Prüfungskammer
Jetzt hieß es, auf die nächste Verhandlung zu warten. Weil laut Kriegsdienstverweigerungsgesetz dienende KDV’ler Anspruch auf ein beschleunigtes Verfahren hatten, wollte ich diese „Zwischenzeit“ so kurz wie möglich halten. Da nicht einzuschätzen war, wann meine Verhandlung vor der Prüfungskammer stattfinden würde, brachte mein Wernauer Freund und SPD-Genosse Walter H. beim damaligen MdB Dr. Volker Hauff (SPD) eine schriftliche Eingabe vor, dass dieser auf eine Beschleunigung meines Verfahrens drängen solle. Walter schrieb am 20. Mai 1973:
„Sehr geehrter Genosse Hauff!
Unter Bezugnahme auf unsere kurze Unterredung im Anschluss an den Diskussionsabend am 19.05.1973 im Ratskeller in Wernau teile ich Dir heute die Personalien und weiteren Details in der Sache der Kriegsdienstverweigerung des Genossen Klaus Zühlke mit. (….)“
Noch vor der Antwort von Volker Hauff an mich – die mich am 6. Juni erreichte –, teilte mir die Wehrbereichsverwaltung mit Ladung vom 22. Mai 1973 mit, dass meine Widerspruchsverhandlung vor der Prüfungskammer auf den 27. Juni 1973, 8:30 Uhr in Stuttgart terminiert sei.
Laut des schon erwähnten Schriftsatzes des Verwaltungsgerichts Stuttgart trug ich vor der Prüfungskammer folgende Begründung vor:
„Für ihn gelte der Grundsatz, dass Konflikte ohne Anwendung physischer Gewalt beizulegen seien und dass menschliches Leben mit allen Mitteln erhalten werden muss. Nur im Falle der persönlichen Notwehr oder Nothilfe dürfe äußerstenfalls menschliches Leben geopfert werden, um ein anderes Leben zu retten. Seine Grundsätze, die für ihn die Grundlage jeglichen menschlichen Zusammenlebens und die Voraussetzungen aller zwischenmenschlichen Beziehungen seien, würden durch den Dienst in einem Apparat, der zur Vernichtung menschlichen Lebens erziehe, in Zweifel gestellt. Die Gewaltanwendung zwischen den Staaten diene nicht der Erhaltung menschlichen Lebens, sondern der Verteidigung ideologischer Weltanschauungen oder materieller Interessen. Er halte gewaltlosen Widerstand für wirksam. Im Verteidigungsfall könne er nicht Menschen mit Waffen entgegentreten, mit denen er u. U. vorher noch freundschaftlich zusammen gewesen sei. Er denke dabei an eine Zusammenkunft, die er vor einiger Zeit mit polnischen Studenten gehabt habe. Wenn er eine Uniform anlege, gehe er das Risiko ein, in eine Situation zu geraten, die den Tod eines Mitmenschen zur Folge habe und zwar nur deswegen, weil dieser eine andere Uniform trage. Er betrachte es als seine staatsbürgerliche Pflicht, den Kriegsdienst zu verweigern, weil er seine Grundsätze und Ideale nicht durch den Kriegsdienst gefährden wolle. (…)“
Vor der Prüfungskammer kam auch der berühmt-berüchtigte „Flammenwerfer-Fall“ zur Sprache. In Kurzform besagte er: Eine Schule wird von einem Mann mit einem Flammenwerfer überfallen und er droht, Schulkinder und Lehrer zu töten. Sie hätten die Möglichkeit, dies zu verhindern, indem sie mit ihrer mitgeführten Waffe/Pistole den Täter unschädlich machen könnten und müssten dabei das Risiko eingehen, dass er dabei zu Tode kommt. Mit diesem Fall beabsichtigte die Prüfungskammer zu ergründen, ob eine Gewissensentscheidung in Konflikt- und Dilemmasituationen vorläge.
In meiner Vorbereitung auf diese Verhandlung stieß ich in verschiedenen Texten und in Gesprächen mit anerkannten Kriegsdienstverweigerern immer wieder auf die Einschätzung, dass jedwede Antwort zu Ungunsten des Antragstellers ausgelegt werden würde.
In der Entgegnung brachte ich vor, dass zwischen dem Leben der bedrohten Kinder und dem Leben des Verbrechers nicht abgewogen werden könne. Denn der Tod eines Menschen sei für mich genauso belastend wie der Tod mehrerer Menschen. Auf jeden Fall würde ich versuchen, das Leben der Kinder zu retten. Wenn ich dies nur dadurch erreichen könne, dass ich den Angreifer erschießen müsste, so wäre es mir unmöglich, die Kinder (auf diese Weise) zu retten. Es sei für mich ein Unterschied, ob ich jemanden vorsätzlich oder nur versehentlich töte.
Auf die Frage, wie ich mich verhalten würde, wenn ich nicht als KDV anerkannt werden würde, entgegnete ich, dass ich mich dennoch nicht am Krieg beteiligen würde. Sollte ich gezwungen werden, jemanden zu töten, so würde dies für mich einen unsagbaren Schmerz bedeuten und ich wäre wahrscheinlich unfähig, mit diesem Geschehen fertig zu werden.
Aus dem Schriftsatz der Prüfungskammer kamen einige Dinge zum Vorschein, die ich so nicht mehr in Erinnerung hatte. Beispielsweise hatte ich meinen damaligen, etwas älteren Freund Rainer Z., der wie ich bei der Evangelischen Jugend in Wernau Gruppenleiter war, als Zeugen benannt und dieser ist während der Verhandlung auch vernommen worden. Aus dem Schriftsatz geht außerdem hervor, dass der Prüfungskammer schriftliche Stellungnahmen von „meinem“ Betriebsratsvorsitzenden Gerhard R. vom 9. März 1973 und meines Bundeswehr-Kompaniechefs vom 29. Mai 1973 vorlagen.
Die Prüfungskammer sah meinen Antrag auf Anerkennung als KDV als nicht begründet an und wies meinen Widerspruch zurück. Im Schriftsatz der Prüfungskammer heißt es:
„(…) hat die Prüfungskammer 2 in der Sitzung vom 27.6.1973 in Stuttgart (…) entschieden:
1. Der Widerspruch gegen den Bescheid des Prüfungsausschusses 3 für Kriegsdienstverweigerer beim Kreiswehrersatzamt Stuttgart vom 4.4.1973 wird zurückgewiesen.
2. Der Wehrpflichtige ist nicht berechtigt, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern.
3. Das Verfahren ist kostenfrei. (…)
Rechtmittelbelehrung:
Gegen diesen Widerspruchsbescheid kann innerhalb eines Monats nach seiner Zustellung beim Verwaltungsgericht Stuttgart (...) schriftlich (..) Klage erhoben werden. (…)“
In der Begründung stand Folgendes:
„(…) dass der Wf [6] den Krieg als Mittel der Auseinandersetzung zwischen den Staaten ablehnt. Diese Haltung teilt der Wf mit den meisten Bürgern der BRD, auch mit denen, die ihren Wehrdienst ableisten.
Eine gesetzlich geschützte Gewissensentscheidung als Grundlage der Antragsstellung wurde bei der Art und Weise der Auseinandersetzung des Wf mit der ihm dargelegten Problematik nicht erkennbar. (…)“
Die erneute Ablehnung war sehr enttäuschend und ich empfand sie als ungerecht. Dass es so schwer sein sollte, mein Grundrecht geltend zu machen, hatte ich nicht gedacht. Und wieder zur Bundeswehr zurückkehren zu müssen als nicht anerkannter KDV’ler, war ein schwerer Gang für mich. Doch aufgeben wollte ich nicht und so strebte ich ein Verfahren vor dem Verwaltungsgericht an.
Seit meiner Schulzeit stottere ich. So nahm die Prüfungskammer mein Stottern während der Gewissensprüfung zum Anlass, in ihrem Schriftsatz die Frage aufzuwerfen, ob meine Wehrdiensttauglichkeit hierdurch beeinträchtigt sein könnte. Sie sprach die Anregung gegenüber der Bundeswehrverwaltung aus, eine weitere Tauglichkeitsprüfung zu veranlassen. Damit liefen zwei Prozesse gleichzeitig: die von der Bundeswehrverwaltung selbst in Gang gesetzte erneute Prüfung meiner Diensttauglichkeit und mein Klageverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland vor dem Verwaltungsgericht in Stuttgart.
Ich hatte die Absicht, aus der Bundeswehr als anerkannter Kriegsdienstverweigerer auszuscheiden – denn dafür führte ich ja genug gute Gründe an – und nicht als untauglicher Soldat.
Den Widerspruch legte ich fristgerecht ein, so dass nun die dritte Verhandlung vor mir lag. Doch diesmal wurde vor einem zivilen Gericht verhandelt, das (weisungs-)unabhängig seine Urteile zu sprechen hat. Ich nahm mir einen Rechtsanwalt, um so gut es ging für die nächste Instanz vorbereitet zu sein.
Drei Monate nach meiner erneuten Ablehnung und noch vor meiner Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht fand die Untersuchung zur nachträglichen Feststellung meiner Wehrtauglichkeit am 25. September 1973 im Bundeswehrkrankenhaus München statt. Untersucht hat mich ein Oberstabsarzt für Neurologie und Psychiatrie. Das Ergebnis erfuhr ich im Dezember.
Wie bisher tat ich meinen Dienst bei der Bundeswehr in Großengstingen – pflichtgemäß und widerspruchslos, so wie es mein Kompaniechef an die Prüfungskammer bezüglich meiner dortigen Verhandlung in seinem Schreiben zum Ausdruck gebracht hatte.
Nach meiner heutigen Erinnerung erledigte ich meinen Dienst so gut ich konnte, denn ich wollte nicht noch zusätzlichen Belastungen ausgesetzt sein. Ebenso wollte ich dort nicht den „Helden“ spielen oder dem Risiko ausgesetzt sein, übers Wochenende in der Kaserne bleiben zu müssen oder überplanmäßig zum Wachdienst eingeteilt zu werden.
Die Anerkennung vor dem Verwaltungsgericht
Bei der Stuttgarter Gruppe der Deutschen Friedensgesellschaft-Internationale der Kriegsdienstgegner e.V. (DFG-IDK) holte ich Adressen für KDV-Rechtsanwälte ein. Aus der mir zugesandten Liste entschied ich mich für RA Ulrich M. Cassel, der mein Rechtsbeistand vor Gericht wurde. Vom Ergebnis her betrachtet war er für die anstehende Verhandlung die richtige Wahl.
Dem Verwaltungsgericht legte ich am 8. September 1973 meine schriftliche Antragsbegründung vor. Ich schrieb:
„Hiermit begründe ich meine Gewissensentscheidung wie folgt:
Durch die elterliche Erziehung, Schule, Berufsausbildung und dem Lernprozess, der sich während der Arbeit in einer Jugendgruppe vollzog, habe ich gelernt, dass die Fähigkeit des Zusammenlebens innerhalb der menschlichen Gemeinschaft gewisse Grundsätze voraussetzt:
Einer dieser Grundsätze ist, Konflikte mit angemessenen Mitteln, ohne die Anwendung physischer Gewalt, zu beseitigen. Sollte wider Erwarten doch Gewaltanwendung erforderlich sein, so ist diese auf das Angemessene zu beschränken.
Ein zweiter moralisch ethischer Grundsatz bildet eine Ergänzung, besser noch eine Einschränkung, des Ersten. Es ist der Grundsatz der Erhaltung des menschlichen Lebens mit allen Mitteln.
Daß dieser Grundsatz der Erhaltung des menschlichen Lebens auch noch heute, oder heute mehr denn je von Bedeutung ist, beweisen Diskussionen um Pille, Abtreibung und Euthanasie. Der einzige Fall, bei dem eine Konfliktsituation das äußerste Mittel der Gewaltanwendung, die Auslöschung menschlichen Lebens rechtfertigt, ist der, in welchem das Überleben eines Menschen den Tod des anderen voraussetzt.
Eine solcherart extreme Situation kann nur im Falle eines Verbrechens oder einer anderen kriminellen Handlung vorliegen.
Ein ideologischer Streit oder der Streit um materielle Bedürfnisse kann die Anwendung eines so extremen Mittels wie das Töten nicht rechtfertigen.
Diese Grundsätze, die für meine Person die Grundlage jeglichen menschlichen Zusammenlebens und Voraussetzung aller zwischenmenschlicher Beziehungen sind, werden durch den Dienst in einem Apparat, der nicht zur Erhaltung, sondern zur Vernichtung des menschlichen Lebens erzieht und ausbildet, in Zweifel gestellt. (…) Wenn wir uns heute erlauben, den Fanatismus religiöser kriegerischer Auseinandersetzungen mitleidig zu belächeln, so muß uns auch die Bereitschaft zur Aufopferung menschlichen Lebens zum Zwecke der Erhalt eines politischen Systems als äußerst fragwürdig erscheinen. (…)
Um derartige Konflikte angemessen zu lösen sind aber andere Mittel anzuwenden. (…) Mit einem gewaltlosen Widerstand kann man weitaus wirksamer Widerstand leisten.
Daß die These des sogenannten Gleichgewichts des Schreckens eine nicht schätzbare Gefahr in sich birgt, hat die Geschichte ausreichend bewiesen.
Selbst wenn die Gefahr einer zwischenstaatlichen kriegerischen Auseinandersetzung auch noch so gering eingeschätzt wird, ist in dieser These des Gleichgewichts der Kräfte diese Gefahr verbunden mit der Auslöschung menschlichen Lebens, und somit nach dem Grundsatz der Erhaltung des menschlichen Lebens abzulehnen.
Wie bereits ausgeführt, geht die scheinbare Vereinbarkeit zwischen diesem Grundsatz und seiner, für mich paradoxen Aussetzung im Falle kriegerischen Auseinandersetzungen über meinen geistigen Horizont hinaus.
Ich bin nicht in der Lage, diese Abweichung von meinen moralischen und sittlichen Prinzipien zu verarbeiten.
Folgendes Beispiel mag dies verdeutlichen:
Vor nicht allzu langer Zeit machte ich Bekanntschaft einer Gruppe junger polnischer Studenten. Wir diskutierten über die verschiedenen Systeme in Ost und West, ausgehend von verschiedenen Standpunkten und gingen trotzdem gut freundschaftlich auseinander. Diese Menschen haben die gleichen Probleme und Schwierigkeiten wie auch ich, sie versuchen ihre Ideale in einer friedlichen Welt zu verwirklichen. Welche Veranlassung sollten wir haben uns gegenseitig zu vernichten? (…)
Ich betrachte es deshalb als meine staatsbürgerliche Pflicht den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern. Ich will meine Grundsätze und meine Ideale nicht durch den Kriegsdienst gefährden.
Um meiner Weltanschauung und meinem Gewissen genüge zu tun, bin ich mir selbst und meinen Mitmenschen gegenüber verpflichtet, mein Recht zur Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe geltend zu machen. (…)“
Nach vier weiteren Monaten der Absolvierung meines Wehrdienstes fand nunmehr meine dritte Gewissensprüfung am 26. Oktober 1973 um 10:30 Uhr vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart statt. Mit meinem Rechtsanwalt hatte ich eine gute Unterstützung zur Seite und verschiedenen Quellen konnte ich entnehmen, dass die Verhandlungen vor einem regulären Gericht sehr häufig einen positiven Verlauf im Sinne der Anerkennung nehmen würden. Dennoch war ich gespannt, wie das Verfahren ausgehen würde.
Im Schriftsatz des Verwaltungsgerichts ist zu lesen:
„In der Verwaltungsrechtsache des Klaus Zühlke, (…),
Eberhard-Finckh-Kaserne, 1. RakArt.Btl.250[7] (…),
vertreten durch RA Ulrich M. Cassel, 7 Stuttgart (…)
gegen
die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Präsidenten der Wehrbereichsverwaltung V, 7 Stuttgart (…)
wegen Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer hat die 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Stuttgart auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 26.10.1973 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters am VG Dr. Juranek (…) für Recht anerkannt:
Der Bescheid des Prüfungsausschusses 3 für Kriegsdienstverweigerer beim Kreiswehrersatzamt Stuttgart vom 4.4.1973 und der Bescheid der Prüfungskammer 2 für Kriegsdienstverweigerer bei der Wehrbereichsverwaltung V vom 27.6.1973 werden aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Kläger berechtigt ist, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern. (…)“
Wenn es nach dem Willen der damaligen Beklagten gegangen wäre, hätte die Verhandlung gar nicht stattfinden sollen. Denn gleich nach Eröffnung der Verhandlung wurde durch den Vertreter der Bundesrepublik Deutschland vorgetragen, er lege der klagenden Partei nahe, auf die Verhandlung zu verzichten, denn es sei zu erwarten, dass die durchgeführten medizinischen Untersuchungen zu dem Ergebnis kommen würden, dass der Kläger dienstuntauglich sei. Mein Rechtsbeistand wies dieses Ansinnen zurück, denn es sollte ein Urteil erwirkt werden. Zu meiner weiteren Unterstützung vor Gericht hatten Walter H. und Brigitte M. – beide kannte ich sehr gut von SPD und Jusos – als Zeugen ausgesagt.
Unter „Entscheidungsgründe“ im Schriftsatz des Verwaltungsgerichtes heißt es:
„Die Klage ist zulässig und auch begründet. Die Bescheide des Prüfungsausschusses und der Prüfungskammer sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger verweigert den Kriegsdienst aus Gewissensgründen.
„(…) Die Anerkennung als KDV ist also auszusprechen, wenn ein Antragsteller eine Gewissensentscheidung gegen seine Teilnahme am Kriegsdienst mit der Waffe getroffen hat. Unter Gewissen ist – übereinstimmend mit der ständigen Rechtsprechung des BVerwG (vgl. z. B. BVerwGE 7, 242) – zu verstehen, „die eigene Erkenntnis des Erlaubten und Verbotenen und die Ansicht, verpflichtet zu sein, dieser Erkenntnis gemäß zu handeln,“ also „eine im Innern ursprünglich vorhandene Überzeugung von Recht und Unrecht und die sich daraus ergebende Verpflichtung zu einem bestimmten Handeln oder Unterlassen (…).“ Als Gewissensentscheidung ist sonach jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von „Gut“ und „Böse“ orientierte Entscheidung anzusehen, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich verpflichtend erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte (vgl. BVerfGE 12,55). Im Falle der Kriegsdienstverweigerung muß dieser Gewissenszwang auf der Überzeugung von der sittlichen Verwerflichkeit des Tötens bei jeder kriegerischen Auseinandersetzung beruhen. Hierbei verbietet das Gewissen ein Tun, das unmittelbar darauf gerichtet ist, mit Waffen im Krieg Menschen zu töten (BVerfGE 12, 45ff). Hat der Wehrpflichtige eine solche Entscheidung getroffen, so trägt das Grundgesetz ihr dadurch Rechnung, daß es die Verweigerung des Kriegsdienstes zuläßt und damit den Wehrpflichtigen von einer Verfassung und Gesetz allgemein auferlegten staatsbürgerlichen Pflicht freistellt. (…)
Die Kammer ist auf Grund des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass der Kläger eine Gewissensentscheidung gegen den Kriegsdienst mit der Waffe getroffen hat. (…)
Mit der vom Kläger vertretenen Überzeugung, daß er unfähig sei, ein Menschenleben zu vernichten, steht seine Äußerung nicht in Widerspruch, er würde notfalls den Tod eines Angreifers in Kauf nehmen, wenn er dadurch das Leben seiner Familie retten könnte, weil ihm diese näher stehe und ihr Tod daher sein Gewissen noch stärker belasten würde als der Tod des Angreifers. In einem Fall, in dem der Wehrpflichtige sich unausweichlich zwischen der Vernichtung des einen oder des anderen Menschenlebens entscheiden müßte, ist die Wahl der Alternative grundsätzlich ohne Bedeutung. Es kommt allein auf die Motivation der Entscheidung an, und insbesondere darauf, dass die getroffene Wahl das Gewissen belastet, Die Entscheidung zugunsten des Lebens von Angehörigen ist nicht sach- und gewissensfremd (vgl. BVerwG Urteil v. 27.1.1972 in BVerwGE 39, 269 ff).
Die Kammer hat keinen Zweifel, daß der Kläger eine echte Gewissensentscheidung getroffen hat. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft gemacht, dass die Kriegsdienstverweigerung seiner inneren Einstellung und seinen sittlichen Grundsätzen entspricht. (…)
Ebensowenig spricht gegen die Glaubwürdigkeit des Klägers, dass er – nach der schriftlichen Stellungnahme seines Dienstvorgesetzten bei der Bundeswehr – im Dienst anstrengungsbereit sei und gut mitarbeitet. Die Überzeugung des Wehrpflichtigen von der absoluten Verwerflichkeit des Tötens feindlicher Soldaten im Krieg muß nicht notwendig dazu führen, dass er auch den Friedenswehrdienst verweigert (…). Die Kammer hält den Kläger für einen Menschen, der aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur jeder spektakulären Demonstration seiner inneren Einstellung abgeneigt ist. Sie ist überzeugt, dass allein dies den Kläger bisher davon abgehalten hat, seinen Pflichten als Soldat nicht ordnungsgemäß nachzukommen. Sie sieht darin kein Anzeichen für eine Unehrlichkeit des Klägers.
Die Behauptung des Klägers, er habe eine Gewissensentscheidung gegen den Kriegsdienst getroffen, erschien der Kammer auch im Hinblick auf ihre Motivation glaubhaft. (…) Zwar konnte der Kläger keine konkreten oder einschneidenden Ereignisse dieser Entwicklung nennen, die seine Gewissensentscheidung auslösten; nach seinen Angaben reifte diese langsam in ihm heran. Das Fehlen von „Schlüsselerlebnissen“ spricht jedoch nicht gegen seine Gewissensentscheidung, sondern läßt sich im vorliegenden Fall wiederum aus der Persönlichkeitsstruktur des Klägers erklären. (...)“
Nun hatte ich es amtlich – ich war als Kriegsdienstverweigerer anerkannt. Ganz sicher war ich damals sehr froh, dass meine Begründungen und Argumente jetzt zur Anerkennung geführt hatten. Außerdem war ich überaus erleichtert, die Bundeswehr hinter mir lassen zu können.
Wenn ich heute die Bescheide des Prüfungsausschusses, der Prüfungskammer und das Urteil des Verwaltungsgerichts Revue passieren lasse, so zeigt sich, dass das zivile Gericht meine persönliche Entwicklung, mein bisheriges Verhalten, meine Glaubwürdigkeit, die Einflüsse auf meine Entscheidung zu verweigern, sowie die Motivation für meine Kriegsdienstverweigerung umfassend und unvoreingenommen gewürdigt hat. So betrachtet hätte bereits vor dem Prüfungsausschuss eine Anerkennung erfolgen müssen.
Entlassung aus der Bundeswehr
Eine Woche nach der Verhandlung wurde mir der „Durchschlag“ des Urteils postalisch per Eilboten in der Kaserne zugestellt. Mit Schreiben vom 8. November 1973 teilte mir der Batteriechef meiner Kompanie mit, dass meinem Gesuch vom 7. November auf Freistellung vom Dienst zum 10. November stattgegeben werde. Ich erhielt Urlaub unter Fortfall der Geld- und Sachbezüge einschließlich der Heilfürsorge.[8] Die Freistellung erfolgte „bis auf weiteres“ und ging dann in meine Entlassung aus der Bundeswehr zum 31. Dezember 1973 über.
Denn im Dezember 1973 erhielt ich vom II. Korps, Kommandeur der Korpstruppen Ulm, den schriftlichen Bescheid, dass ich wegen „Dienstunfähigkeit“ aus der Bundeswehr entlassen werde. Mir wurde mitgeteilt,
„(…) bei der ärztlichen Untersuchung am 29.09.1973 durch OSA Dr. M(..), Arzt für Neurologie und Psychiatrie am Bundeswehrkrankenhaus München, wurde festgestellt, daß Sie an einer Gemeinschaftsunfähigkeit leiden.
Der Korpsarzt hat das Ergebnis der Untersuchung am 29.11.1973 bestätigt.
Mit der Wiederherstellung Ihrer Dienstfähigkeit ist innerhalb von 3 Jahren nicht zu rechnen.
Sie werden (...) mit Ablauf des 31. Dezember 1973 aus der Bundeswehr entlassen. (…)“
Diese Diagnose der „Gemeinschaftsunfähigkeit“ hatte schon einen kleinen wahren Kern: Gerade während der Bundeswehrzeit stotterte ich sehr stark und ich erinnere mich, dass es sich dort sogar verschlimmert hatte. Aus heutiger Sicht hätte die Diagnose aber zutreffender „Bundeswehrunfähigkeit“ heißen müssen, denn in meinem zivilen Leben war ich stets in Organisationen und Institutionen mit vielen sozialen und kommunikativen Bezügen aktiv. Damals war ich jedoch nur froh, dass die Untersuchung so ausging und ich denke heute, dass ich mir sowohl damals als auch später die attestierte „Gemeinschaftsunfähigkeit“ nicht zu Herzen genommen habe.[9]
So konnte ich gleich zu Beginn des Jahres 1974 die bei meiner Lehrfirma unterbrochene Beschäftigung als Mechaniker wieder aufnehmen und fortführen. Dann wurde es auch Zeit, von zu Hause auszuziehen und ich mietete mir zunächst in Wernau eine eigene Wohnung.[10] Ich war weiterhin gewerkschaftlich aktiv, und nach einigen weiteren Jahren der Berufstätigkeit in Esslingen, interessierte ich mich für ein Studium. Doch gab es überhaupt Möglichkeiten, als Facharbeiter mit Hauptschulabschluss studieren zu können?
Post vom Bundesamt für den Zivildienst
Heute nicht mehr in Erinnerung hatte ich den Umstand, dass ich damals zeitlich befristet untauglich „geschrieben“ worden war und 1978 Post vom Bundesamt für den Zivildienst erhalten hatte. Müsste ich gegebenenfalls jetzt den Zivildienst antreten? Mit Schreiben vom 28. Juni 1978 erhielt ich eine Ladung zur Nachuntersuchung. Dort hieß es u. a.:
„(…) Gemäß § 39 Abs. 2 Satz 1 Zivildienstgesetz haben Sie die Aufforderungen des beauftragten Arztes unbedingt zu befolgen und die erforderlichen Untersuchungen zu dulden. (…) Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass Zuwiderhandlungen bzw. unentschuldigtes Nichterscheinen (…) mit einer Geldbuße geahndet werden können. (…)“
Auch an die damals stattgefundene ärztliche Nachuntersuchung habe ich keine Erinnerung. Das Ergebnis der Untersuchung wurde mir mit Schreiben vom 28. August 1978 mitgeteilt: Tauglichkeitsgrad „nicht zivildienstfähig“. Allerdings ging aus dem Schreiben nicht hervor, ob das Ergebnis mit der weiter bestehenden „Gemeinschaftsunfähigkeit“ zusammenhängt. Im Grunde wollte ich es auch gar nicht wissen. Wichtig war für mich, dass damit dieses gesamte Kapitel „Kriegsdienstverweigerung“ abgeschlossen war.
Wie ging es weiter?
Damit konnte ich meiner Arbeit als Mechaniker weiter nachgehen und führte auch meine gewerkschaftlichen und parteipolitischen Aktivitäten fort. Ich spürte einen „Hunger auf Bildung“ und so besuchte ich Mitte der 1970er Jahre zwei aufeinander aufbauende Seminare zur politischen und gesellschaftlichen Bildung in der Heimvolkshochschule Hustedt.[11] In gewerkschaftlichen Kreisen erfuhr ich, dass es möglich war, an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg als Berufstätiger ohne Studienberechtigung mittels einer Aufnahmeprüfung die Studienberechtigung zu erwerben. Dort absolvierte ich im Sommer 1979 die Aufnahmeprüfung. Ich bestand sie so, dass ich bereits zum Wintersemester 1979/80 mit dem Studium hätte beginnen können. Doch meine damalige Freundin und ich gaben uns noch ein Jahr Zeit für den gemeinsamen sowohl privat als auch sozial geordneten Übergang von Esslingen nach Hamburg. Für meine Eltern war meine Entscheidung nicht einfach zu verstehen, hatte ich in ihren Augen doch eine „sichere Stelle“ und könnte mich noch deutlich verbessern, wenn ich zum größten Arbeitgeber nach Untertürkheim wechseln würde.
So hängte ich im September 1980 mein Facharbeiterdasein an den Nagel, denn zum Wintersemester 1980 begann ich – gefördert durch ein Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung (HBS) – an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg das Studium der Volkswirtschaftslehre, das im Sommer 1983 mit dem Diplom endete. Aufbauend auf der damit erworbenen allgemeinen Hochschulreife nahm ich – wiederum gefördert von der HBS – das Studium der Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Hamburg auf, das ich 1990 mit dem Diplom abschloss.
Bis zum Ende meiner Berufstätigkeit im Sommer 2017 – dank Altersteilzeit konnte ich früher aufhören – war ich ununterbrochen in wissenschaftlich ausgerichteten Kontexten beruflich tätig. So arbeitete ich nahezu direkt nach dem Studium für eineinhalb Jahre beim Projektverbund Friedenswissenschaften an der Universität Kiel (jetzt Schleswig-Holsteinisches Institut für Friedensforschung, SCHIFF) zum Thema der sozialen und wirtschaftlichen Folgen des Abbaus der Bundeswehr und von Standortschließungen in Schleswig-Holstein.
Wie blicke ich heute auf diese Zeit zurück?
Dass ich diesen Artikel geschrieben habe, geht auf die Initiative und Anregung von Thomas Krischer zurück, den ich während meiner letzten beiden Berufsjahre (1978 bis 1980) in Esslingen kennengelernt habe. Damals arbeiteten wir beide als Facharbeiter bei der Esslinger Pressenfabrik Fritz Müller. Thomas war dort Betriebsrat und ich Vorsitzender des betrieblichen IG Metall-Vertrauenskörpers. Seitdem sind wir befreundet. Als er mir im November 2020 sagte, dass er gerade einen autobiografischen Artikel zu seiner KDV-Karriere schreibe, erzählte ich ihm im Gegenzug meine KDV-Geschichte. Und so kam eins zum anderen und am Ende liegt jetzt auch meine Geschichte niedergeschrieben vor.
Die Zeit meiner Kriegsdienstverweigerung war sicherlich eine Zeit der Selbstbehauptung: Meinen Weg zu finden, durchzuhalten und mich durchzusetzen war insgesamt eine prägende Erfahrung. Immerhin hatte das Ganze ja den Preis der jahrelangen Zerrüttung des Verhältnisses insbesondere zu meinem Vater, welches sich erst sehr viele Jahre später wieder normalisiert hat. Sicherlich sind auch während dieser Zeit wichtige Grundlagen dafür gelegt worden, dass ich gegen Ende der 1970er Jahre nach Wegen suchte, um die – persönlich perspektivlose – Fabrikarbeit hinter mir lassen zu können.
Heute – nach fast fünfzig Jahren – denke ich, dass es schon eine besondere Zeit und eine besondere Leistung war, auf die ich dank des Niederschreibens meiner KDV-Geschichte (noch mal wieder) mit Staunen und Stolz zurückblicke. Darüber hinaus ist es für mich selbst interessant nachzulesen, welche Position ich damals gegenüber der Bundeswehr eingenommen und wie ich meinen Antrag für Kriegsdienstverweigerung begründet habe. Mit der damaligen Wehrpflicht einerseits und dem Recht auf KDV andererseits wurden viele junge Männer „gezwungen“, sich persönlich zu dieser Institution zu positionieren und zu verhalten.
Bonn, im Februar 2021
Anmerkungen:
[1] Mir liegen nahezu alle Dokumente zu den beschriebenen Vorgängen vor.
[2] Abkürzung DFU. 1960 in der Bundesrepublik Deutschland gegründete politische Partei; wendet sich gegen jegliche Lagerung von Atomwaffen und befürwortet den Austritt der Bundesrepublik Deutschland und der DDR aus den Blocksystemen in West und Ost. Nach 1969 beteiligte sich die DFU nicht mehr an Bundestagswahlen. 1989 stellte sie ihr Wirken ein. Quelle: https://www.wissen.de/lexikon/deutsche-friedens-union (Zugriff 10.12.2020)
[3] Es wird wohl Ende der 1990er/Anfang der 2000er Jahre gewesen sein, als im Rahmen einer größeren Familienzusammenkunft auf dem Gütle meiner verheirateten und älteren Schwester in Oberesslingen mein Vater um Entschuldigung für sein damaliges Verhalten bat, die ich annahm.
[4] Ursprünglich war der Termin für den 12. April 1973 angesetzt, der dann vorverlegt worden ist.
[5] „Ich gelobe, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.“ – § 9 Soldatengesetz, Gelöbnisformel für Wehrpflichtige Soldaten. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Vereidigung_und_Gel%C3%B6bnis_von_Soldaten_der_Bundeswehr (Aufruf am 09.12.2020)
[6] Wf – Wehrpflichtiger
[7] In den mir vorliegenden Schreiben der Bundeswehr steht 2. RakArt.Btl.250.
[8] Ob damit verbunden war, keine Krankenversicherung gehabt zu haben, kann ich heute nicht mehr rekonstruieren.
[9] Allerdings interessierte mich schon, zu erfahren, was sich hinter der „Gemeinschaftsunfähigkeit“ verbirgt. So schrieb ich 1974 an die zuständige Bundeswehrdienststelle in Ulm mit der Bitte um Einsichtnahme in meine „Krankenakte“. Darauf erhielt ich die schriftliche Antwort, dafür müsse ich die Einwilligung des damals untersuchenden Arztes in München bzw. der dortigen Dienststelle selbst einholen. Dies habe ich dann doch nicht gemacht und so blieb es für mich im Dunkeln, wie die Diagnose „Gemeinschaftsunfähigkeit“ zustande kam.
[10] Um diese Zeit hatte ich eigentlich vor mit einem guten Freund aus der Gewerkschaftsjugend gemeinsam eine Wohnung zu mieten. Er war auch auf der Suche nach einer eigenen Wohnung. Also taten wir uns zusammen. Gemeinsam suchten wir in Kirchheim unter Teck, doch wir wurden bei unseren gemeinsamen Vorstellungen bei Vermietern rundweg abgelehnt und meist kurz angebunden abgefertigt. Nach einiger Zeit gaben wir auf und jeder nahm sich eine eigene Wohnung. Offenbar passte eine Männer-WG nicht in diese Zeit.
[11] Für das sechswöchige erste Seminar erhielt ich von „meiner“ Firma eine unbezahlte Freistellung, für das darauf aufbauende sechsmonatige Seminar kündigte ich und danach begann ich im Frühjahr 1978 meine Arbeit bei der Esslinger Pressenfabrik Fritz Müller. Für das zweite Seminar erhielt ich BAFÖG.
Klaus Zühlke-Robinet
- 1953 in Metzingen geboren
- 1968 Hauptschulabschluss in Wernau
- 1968 bis 1972 Mechanikerlehre in Esslingen mit anschließender Berufstätigkeit
- 1980 bis 1990 Studium in Hamburg und anschließender wissenschaftlicher Berufstätigkeit
- Seit 1990 verheiratet
- 1995 Umzug nach Bonn, berufliche Stationen waren u. a. das Institut Arbeit und Technik in Gelsenkirchen und von 2001 bis 2017 der Projektträger im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Bonn
- Gründungsmitglied und Schatzmeister des gemeinnützigen Vereins „Humane Gestaltung von Arbeit und Leben“
- Kommunalpolitisch aktiv
Veröffentlichungen über KDV von Klaus Zühlke-Robinet
- Lebensgeschichten: Ex-Kriegsdienstverweigerer erzählen. Ein Mitmachprojekt - in: Mitten im Leben - Mitten in Bonn. Ausgabe 02 / 2021. Seite 18/19 (PDF-Datei, S. 10)
- Als Wehrdienstverweigerer als „Drückeberger“ beschimpft wurden - Bonner Generalanzeiger vom 03.05.2021