Ernst-Ludwig Iskenius (1952): "Meine Kriegsdienstverweigerung hat mich mein Leben lang geprägt"

Von Ernst-Ludwig Iskenius


Meine Geschichte der Kriegsdienstverweigerung ist unspektakulär und sicher auch alltäglich gewesen. Trotzdem hat sie mich mein Leben lang in irgendeiner Weise geprägt, bis heute.

Ich bin 1952 geboren und in einer katholisch-konservativen Umgebung aufgewachsen. Mein Vater war als junger Student zur Wehrmacht eingezogen worden und wurde an verschiedenen Plätzen des 2. Weltkrieges als Soldat eingesetzt. Er hat großes Glück gehabt, wie seine beiden Brüder ohne äußere Verletzungen aus diesem Krieg zu entkommen und auch nur wenige Monate in englischer Kriegsgefangenschaft zu sein. Als Junge wurde ich häufig mit seinen subjektiv gefärbten Erzählungen von seinen Kriegserlebnissen konfrontiert. Dabei unterschied mein Vater streng zwischen dem verbrecherischen "Hitlerregime" und der "sauberen Wehrmacht". In diesem Sinne hieß er auch die Wiedereinführung des Militärs in Deutschland prinzipiell gut und richtig. Im "Kalten Krieg" müsse sich ja die "junge Demokratie" militärisch verteidigen können, um nicht vom "Russen überrannt" zu werden. 

Als Kinder sahen wir natürlich fasziniert den vielen vorbeifahrenden Panzern zu, die häufig, vom Bahnhof kommend, Tag und Nacht, unmittelbar mit großem Getöse direkt an unserem Haus vorbei zu ihrer Kaserne fuhren. Die über 1000 belgischen Soldaten waren in der Nähe in riesigen Kasernengebäuden stationiert und übten in den Wäldern rund um unser kleines Städtchen den Krieg. Soldaten in Uniform prägten auch in ihrer Freizeit das Bild in unseren Straßen. Auch die häufigen militärischen Tiefflieger mit ihren plötzlichen, uns tief erschreckenden Fluglärmquellen ("startle Effekte"), wurden von den Bürgern kritiklos hingenommen. Sie seien ja nur um unsere "Sicherheit" bemüht.

Die Studentenbewegung von 1968 hatte ich in meiner beschaulichen Umgebung eher am Rande mitbekommen. Erst mein fortschrittlicher katholischer Religionslehrer öffnete mir in seinem Unterricht die Augen über die Widersprüche unserer kapitalistischen Gesellschaft. Wir lasen viele Texte von südamerikanischen Befreiungstheologen und schärften so unsere Denk- und Kritikfähigkeiten. Gleichzeitig ging ich, als ich vierzehn Jahre alt war, oft selbstständig auf Reisen, und wegen Geldmangel kam da nur das sogenannte "Trampen" (Finger raus an der Straße und umsonst mitgenommen werden) in Frage. So erfuhr ich in den großen Städten, die ich in meiner Freizeit aufsuchte, von vielen sozialen Problemen (Lebensbedingungen von Obdachlosen, entlaufenen Jugendlichen aus Heimen, Unterbringung von den sogenannten Gastarbeitern), die mir bis dahin unbekannt waren. 

Schon früh war ich fasziniert von der Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King und der Bewegung der Catholic Worker und ihren Protestaktionen gegen den Vietnam-Krieg in den USA. 

Über meine eigene Haltung zur bundesdeutschen Armee machte ich mir erst Gedanken, als der Termin zur Musterung ab meinem 18. Lebensjahr immer näher rückte. Auslöser war die Vorstellung, dass ich mir eine Unter- oder Einordnung in die meine Freiheit einschränkenden militärischen Strukturen nicht vorstellen konnte.

Wann ich mich genau entschloss, den Kriegsdienst zu verweigern, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich aber noch, dass ich das eines Tages meinem Vater in unserer Küche mitgeteilt hatte. Er schluckte zunächst, denn er saß als Kreistagsabgeordneter der CDU in einem KDV- Prüfungsausschuss und hat sicherlich viele junge Menschen auf ihre Gewissensentscheidung geprüft und auch abgelehnt. Darüber wurde aber nie richtig in der Familie gesprochen. Zu mir sagte er allerdings nur: "Du musst es selbst wissen, wenn Du meinst, dann gehe Deinen Weg, bereite Dich nur gut und kritisch vor." 
 
Damals gab es ja auch schon veröffentlichte Berichte, in denen auch die Fangfragen thematisiert wurden. Mit meinem Religionslehrer, der damals in meiner Umbruchszeit ein echter Vertrauter war, habe ich dann mein Vorhaben, den Kriegsdienst zu verweigern, ausführlich durchgesprochen. Die schriftliche Eingabe habe ich selbst geschrieben, mit meinem Vater habe ich über meine Begründung nie geredet. In meiner Klasse wurde zwar heiß diskutiert, wie man um diesen lästigen Dienst herumkommen könnte. Aber es haben sich letztlich nur zwei bis drei aus meiner Klassengemeinschaft zur offenen Verweigerung durchgerungen. 
 
Ob ich mich dann ein oder zwei Mal dem Prüfungsausschuss stellen musste, weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall war die letzte Verhandlung schon nach meiner Musterung. Ich wurde nur zu "Ersatzreserve II" vorgesehen und die Chance, primär zum damals 18-monatigen Zwangsdienst eingezogen zu werden, war sehr gering. Deshalb wunderten sich die Prüfer, warum ich überhaupt noch vor ihnen stand. Ich hatte zu dieser Verhandlung meinen Religionslehrer mitnehmen dürfen, was natürlich eine große moralische Unterstützung war. 

In der Verhandlung hatte mein Lehrer kein Wort gesagt. Natürlich kamen die üblichen Fragen und Fangfragen, die ich durch meine intensive Vorbereitung schon kannte, so dass diese Verhandlung für mich nicht allzu unangenehm war. Ich ging aber mit dem Gefühl heraus, nicht anerkannt zu werden. Umso verwunderter war ich, als ich eines Tages die schriftliche Anerkennung meiner Verweigerung in den Händen hielt. Mein Vater beglückwünschte mich dafür.
 
Damals lehnte ich den sogenannten "Ersatzdienst" nicht ab, wurde wegen des Musterungsergebnisses aber nicht mehr dazu eingezogen. Das habe ich insgeheim bedauert, denn dem Zivildienst als staatlichem Zwangsdienst stand ich erst viel später kritisch gegenüber. Heute würde ich sicher zu der Gruppe der Totalverweigerer gehören. Damals gab es noch keinen freiwilligen sozialen Dienst.
 
Die Themen Soziale Verteidigung, Ziviler Ungehorsam, Friedenspolitik, Ablehnung der Militärpolitik bis hin zur Bekämpfung der zunehmenden Militarisierung unserer Gesellschaft mit ihrem Overkill durch Atomwaffen, ziehen sich durch mein ganzes Leben.

Dies führte mich schon bald in die IPPNW und den Internationalen Versöhnungsbund und brachten mich schließlich hautnah an die Opfer sinnloser militärischer Auseinandersetzungen im Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Dort organisierte ich vor Ort mit einem Dutzend Freiwilliger aus neun verschiedenen Ländern humanitäre Hilfe für Flüchtlinge und Opfer des Krieges. Wegen meines beruflichen Hintergrundes als Arzt konzentrierte ich mich auf Projekte im Gesundheitswesen. So bin ich an alle Hot Spots des Krieges in Bosnien, Serbien und Kroatien gekommen und habe nachdrücklich die äußere und die versteckte Destruktivität von Krieg und Gewalt hautnah erleben müssen. 

So ist noch heute ein wichtiges politisches Arbeitsfeld die Versorgung kriegstraumatisierter Geflüchteter, deren seelische Verwundungen immer noch zu wenig in unserer Gesellschaft beachtet werden. 

Ein anderes Themenfeld ist der Widerstand gegen die atomare Aufrüstung mit Aktionen des Zivilen Ungehorsams und anschließenden Prozessen. Ebenso die Blockierung militärischer Übungen, von Gelöbnissen und das wiederholte Eindringen in das Militärgelände von Europas modernstem Gefechtsübungszentrum (GÜZ) in der Altmark.

Ich halte Zivilen Ungehorsam und die Bekämpfung alles Militärischen mit gewaltfreien Mitteln für ein wichtiges Element zur Gestaltung und Erhaltung demokratischer Strukturen und Bewahrung von Menschenrechten, Völkerrecht und neuerdings auch des Klimas und der Umwelt.

Oktober 2021