Willi Rester (geb. 1967): „Wer mich heute kennenlernt, hält es nicht für möglich, dass ich als Schüler ein Duckmäuser war.“
Verehrte Leserin, werter Leser,
Du hast in den 70ern, 80ern des letzten Jahrhunderts in der Oberpfalz, vorzugsweise in der Schwandorfer Gegend, gelebt? Gar noch auf einem Bauerndorf groß geworden und den damals üblichen Militärdienst abgeleistet? Gratuliere, Du wirst mit dem nachfolgenden Text keine Schwierigkeiten haben.
Für alle anderen wird es schon problematischer. Aber keine Angst, nach dem eigentlichen Text zum Thema KDV folgt noch ein „Erklärtext“, der viele, wenn auch nicht alle Fragen beantworten wird.
Von Willi Rester
Aufgewachsen in einem kleinen Bauerndorf in der Oberpfalz, im Naabtal zwischen Oberpfälzer Alb und Bayrischen Wald. Brav katholisch, konservativ, logischerweise war ich Ministrant. Das Verhältnis zum Vater glich eher dem eines Knechts zum Bauern. 1) Der Vater: Nicht fürchten vor der Obrigkeit, aber auch nicht auffallen. Es sei denn, es geht um was Wichtiges. So wie er das Monopol der Raiffeisen und das der Festwirte bei Feuerwehrfesten gebrochen hatte. 2)
Die Ausbildung zum Betriebsschlosser begann ich im Kraftwerk 3), wo der Bruder meines Vaters schon arbeitete. „Ihr habt da Gewerkschaft, was ist denn das genau?“ „Da sind wir alle dabei“ antwortete mein Onkel. „Du gehst auch dazu“, bestimmte mein Vater. Die Anordnung hat er bereut.
Im Kraftwerk herrschte bezüglich der Gewerkschaft die Unsitte des „Pressens“. 4) „Müssen tu ich gar nichts.“ ließ ich die Jugendvertretung abblitzen. Unser Vertreter im Kreisjugendausschuss der ÖTV fragte nach dem Warum und konnte Fragen beantworten. Und damit tauchte ich ein in die Welt der Gewerkschaftsjugend, etwas ganz Anderes als das bisher Bekannte. Wochenend- und Wochenseminare, Sitzungen und Demonstrationen. Der WAA-Widerstand begann. 5) Mit 16 vertrat ich die ÖTV-Jugend beim DGB, mit 17 war ich Vorsitzender der regionalen ÖTV-Jugend, mit 18 auf dem Weg zum Alkoholiker. Freunde aus der Gewerkschaftsjugend bemerkten die Rutschbahn und brachten mich wieder auf einen geraden Weg. 6)
Ebenfalls mit 18 eine gute Abschlussprüfung hingelegt, das erste Mal in Urlaub gefahren, sogar ins Ausland. Und im Dezember 1986 kam der Einberufungsbescheid zur Bundeswehr zum Januar 1987. Nur 4 Wochen Zeit zum Überlegen. 7)
Mitte der 1980er hatte sich die Gewerkschaftsjugend sehr stark mit der Stunde Null beschäftigt, mit der Kontinuität der Nazis bis zu dieser Zeit. 8) Es gab noch genügend Zeitzeugen des Widerstands gegen Hitler, selbstverständlich war die ganze ÖTV-Jugend bei der VVN-BdA. Wir waren auf den Gedenkveranstaltungen zur Befreiung des KZ Flossenbürg und auf den Ostermärschen. Krieg war scheiße, außer der der FSLN. 9) Ich zur Bundeswehr? Nee, sicher nicht. Außer, wenn man …
In dem konservativen Milieu meines Heimatortes wurden Kriegsdienstverweigerer offen als Vaterlandsverräter, Drückeberger, Feiglinge etc. bezeichnet. Bei der Bezirkstagswahl im Regierungsbezirk 1986 gab es für die offene DKP-Liste drei Stimmen. Mein Bruder und ich wissen bis heute nicht, wer der dritte war, aber die ganze Pfarrei wusste, dass die beiden großen Rester-Buben dafür gestimmt haben. Dann mein Leserbrief im Regensburger Bistumsblatt. 10) Die sonntäglichen Mopedausfahrten zum WAA-Bauzaun. Ich lieferte dem Dorftratsch gewaltige Beschäftigung. Und aushalten musste den ganzen Tratsch meine Mutter. Zusätzlich zu der harten Arbeit am Hof, der boshaften Schwiegermutter, der fehlenden Unterstützung ihres Mannes und den Sorgen um die vier Kinder.
Sollte ich ihr nun wirklich noch zumuten, dass der Dorftratsch ihren Sohn als Vaterlandsverräter, Drückeberger, Feigling etc. bezeichnete?
Hmmmh, hmm, hmmja, also…..
Am 2. Januar stand ich in der Schlange bei Einkleiden mit olivgrünen Zeugs. Mein Gott, ich hatte doch schon so viel ausgestanden mit meinen 18 Jahren, da würde ich doch die 15 Monate Barras auch leicht rumbringen. 11) Und es ging ja auch 10 Monate recht gut rum. 12) Wir machten zwar seltsame Sachen mit den Panzern, aber die einfachen Soldaten hielten zusammen und unter den Uffz’s und Feldwebeln gab es keine Leuteschinder. Viel Bier, viel Karten spielen, wer braucht da schon den Heimschläfer?
6 Wochen Kompanieurlaub nach dem ersten Halbjahr brachten eine gewisse Entwöhnung vom Militärtrott. 13) Bei der Rückkehr in die Kaserne öffneten sich erst einmal die Augen: so viele Gestörte auf einem Haufen, wo gibt’s denn das? Schon am 2. Tag Antrag auf Heimschläfer gestellt, der Vater bräuchte Unterstützung auf dem Hof. Bloß raus aus der Kaserne. Noch 4 weitere Monate ging es relativ gut.
Die bisherige Gewerkschaftsjugend war auseinander gebrochen, der übliche Generationenwechsel. Wir hatten den Neuaufbau vorbereitet. Wichtiger Teil dazu war ein Wochenendseminar, das ich vorbereitet und verantwortlich leiten sollte. Zwei Wochen davor die Einteilung zum Wachdienst. Kein Problem, sagte der Spieß, such Dir wen zum Tauschen. Doch alle hatten selbst irgendwelche Dienste. Außer der Gefreite vom Spieß‘. Der wollte nicht.
Was ist wichtiger: Vaterland verteidigen oder Gewerkschaftsjugend aufbauen? 14)
Als ich nicht zum Wachdienst erschien, musste doch der Spieß- Gefreite einrücken. Das Diszi hieß: 1 Woche verschärfte Ausgangssperre ab Heilig Drei König. Ab da hatte ich alle drei Wochen irgend eine Strafe. 15) Hätten nicht Weihnachtsurlaub, Truppenübungsplatzaufenthalte und Ausscheiderurlaub die restliche Anwesenheitszeit drastisch verkürzt, wäre es wohl übel ausgegangen. So hatte ich viele Federn auf meinem Ausscheiderhut, war ein Hingucker auf dem Nürnberger Ostermarsch. 16)
Vom Ausscheidergeld kaufte ich mir jenes Fahrrad, mit dem ich meine großen Radreisen machte.
6 Wochen nach dem Ausscheiden ein erster kleiner Schock. „Endlich bist Du wieder normal,“ meinte ein Freund aus der Gewerkschaftsjugend, „die letzten eineinhalb Jahre warst Du ja kaum zum Aushalten.“ Hä, wieso, ich hatte mich doch gar nicht verändert, wegen dem bisschen Barras. Eigenwahrnehmung blendet vieles aus. 17)
Von unserer Kompanie wurden alle, die ein Diszi hatten oder sonstwie unangenehm aufgefallen waren, in die mobile Reserve gesteckt. 18) Hieß, wir mussten unsere Ausrüstung mitnehmen und zu Hause aufbewahren, wurden vorrangig zu Wehrübungen eingezogen. 7 Monate später die erste Reserveübung. Habe natürlich versucht, mich zu drücken, uk. zu bekommen 19) etc. Half nichts, musste doch ein Messer in den Unterarm stechen. 20) Im Jahr darauf konnte ich das Bw-Graffl abgeben. Bundeswehr ade, endlich.
Nächster Sommer, der nächste kleine Schock. Grillfest der Jugend im Nachbardorf. Ein junger Mann erzählt von seiner tollen Bundeswehrzeit, wie gut es ihm da gegangen wäre, alles super-super-toll. Er war ca. 2 Jahre vor mir in der gleichen Kompanie, über ihn wurde zu meiner Zeit noch gesprochen. Er hatte eine Elendszeit, tappte in jedes noch so gut versteckte Fettnäpfchen, hatte als Strafen Unmengen von Wochenenddiensten. Am Grillfest war er tatsächlichen überzeugt, von einer tollen Zeit zu erzählen. Tags darauf holte ich mein „Tagebuch“, das ich während meiner Militärzeit geführt hatte, erstmals wieder hervor. Ich war fassungslos, was ich in den 15 Monaten alles mit mir hab machen lassen. Mit mir, einem angeblich mündigen Bürger. 21)
Im Winter die Aufforderung, meine Ausrüstung wieder abzuholen, erneute mobile Reserve. Erstmal Nachmusterung beantragt, dann alle Termine ganz kurzfristig abgesagt, mit einer unfrankierten Postkarte entschuldigt. Denn längst war ich bei einem Bekannten aus der Gewerkschaftsjugend zur KDV-Beratung. So ein Messer im Arm tut schließlich ja auch weh. 22)
Als verweigernder Reservist konntest du nicht im schriftlichen Verfahren anerkannt werden, musstest zu Prüfungsausschuss und -kammer. Also gute Vorbereitung, wie früher. „Du bist seit Jahren auf jeder Anti-WAA-Demo, auf jeder Friedensdemo und Ostermarsch sowieso. Und Du glaubst, ich mach‘ bei Dir KDV-Beratung, bevor Du nicht in die DFG-VK eingetreten bist? Kannst Du vergessen!“, sagte der pfenniggute Hermann. Müssen tu ich gar nichts? War das nicht mal mein Moto? Oder war es logisch, ein konsequenter Schritt, endlich Nägel mit Köpfen machen?
„Die maximale Kampfentfernung eines Panzers liegt bei 2,5 km. Die optimale Kampfentfernung der Panzerjäger bei 3,5 km. Bis unser Panzer bei der max. möglichen Geschwindigkeit von 60 km/h diese Distanz überwunden hat, haben uns die Panzerjäger schon 7 x abgeschossen. Bei einem einmaligen Leben ist dies eine ziemliche Munitionsverschwendung. Ich bitte deshalb um Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer.“ 23)
1991 während des zweiten Golfkrieges haben ca. 4500 Soldaten und Reservisten den Kriegsdienst verweigert. Die Prüfungsausschüsse kamen mit dem Prüfen gar nicht mehr hinterher. Also haben sie alle anerkannt, die sie nicht mehr schikanieren konnten. Zum Beispiel weil der Zivildienst 1990 schon auf 15 Monate verkürzt worden war, die ich ja schon in der Kaserne war.
Ich hatte überlegt, gegen meine Anerkennung Einspruch einzulegen, weil auf meine Argumentation nicht eingegangen worden ist. Ist wohl in irgendeiner Seminarvorbereitung untergegangen. 24)
Sommer 1990 bin ich durch die DDR geradelt. 25)
Pfingsten 2000, nach 10 Jahren Karteileiche bei der Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), habe ich mich erstmals an einer Aktion beteiligt: der Internationalen Friedensfahrradtour Bregenz – Strasbourg.
Jetzt bin ich Bezirkssprecher der DFG-VK Oberpfalz und organisiere Friedensfahrradtouren.
Danke Hermann.
Erklärtext
1) Das Leben auf einem oberpfälzer Bauernhof in den 1970ern war kein Spaß. Die Mechanisierung war abgeschlossen, es gab kaum noch landwirtschaftliche Arbeitskräfte. Um die anfallende Arbeit zu bewältigen, mussten auch kleine Kinder mitarbeiten. Da schaffte der Bauer (Vater) eben an und die Knechte und Mägde (wir Kinder) parierten. Meine früheste Erinnerung an einen Ernteeinsatz, da war ich 5 Jahre, ich musste den Traktor lenken, während der Vater Strohballen auf den Anhänger spießte. Zudem hatte mein Vater den Hof runtergewirtschaftet übernommen. Das Geld für die Erstausstattung bzw. Modernisierung des Fuhrparks war in der Landwirtschaft nicht zu verdienen. Deshalb nahm mein Vater viele Nebenjobs an: Lastwagenfahrer, Katalogverpacker, Futtermittelvertreter und was weiß ich noch. Er hielt sein Geld zusammen, trank nicht, rauchte nicht, investierte klug. Öfters gesehen habe ich ihn aber erst als Jugendlicher, als der Hof halbwegs stabilisiert war. Wobei bei alledem der Vater nicht gewalttätig war. Bevor wir alle Heiligenzeiten mal eine Watschn (Ohrfeige) bekamen, mussten wir Kinder schon wirklich was Größeres ausgefressen haben.
Über Gefühle wurde nicht gesprochen, weder vom Vater noch von der Mutter, die Worte wurden für die Arbeit aufgehoben. Nicht geschimpft war gelobt genug.
2) Nicht nur wegen der außerlandwirtschaftlichen Einkommen florierte der Bauernhof wieder, mein Vater war auch ein exzellenter Meister seines Berufsstandes. Nichts Althergebrachtes übernahm er, wenn er eine bessere Idee hatte. So deckten alle Bauern der Region ihren Bedarf an Düngemittel und Pflanzenschutzmittel über die Raiffeisen, die sich diesen Zwischenhandel reichlich entlohnen ließ. Bis mein Vater eine Einkaufsgemeinschaft initiierte, die die Verteilung einer ganzen Düngemittelladung eines Donau-Lastkahns organisierte. Später dann Güterzüge. Die eingesparten Einkaufspreise müssen erheblich gewesen sein, denn die Einkaufsgemeinschaft bestand über 20 Jahre.
Einen anderen Aufstand zettelte mein Vater beim 100jährigen Gründungsjubiläum der örtlichen Feuerwehr an. Bis dahin üblich wurde ein Festwirt engagiert, der alles organisierte. Die praktischen Arbeiten leisteten die Feuerwehrler, den Reibach strich der Festwirt ein. Dem konnte mein Vater nicht zusehen und initiierte das erste selbstorganisierte Jubiläumsfest einer Feuerwehr im ganzen Landkreis. Durchaus erfolgreich.
3) Das Braunkohlekraftwerk in Dachelhofen bei Schwandorf war zeitweise das größte Kraftwerk in Bayern.
4) Zu meinem Ausbildungsbeginn war die Belegschaft des Kraftwerks zu 92% in der Gewerkschaft ÖTV organisiert.
Eine so hohe Zahl an Mitgliedern war auch in damaliger Zeit nicht durch Überzeugung zu gewinnen. Das „Pressen in die Gewerkschaft“ lief so ab: drei, vier Leute von den höheren Ausbildungsjahren, mit dabei die Jugendvertretung, umzingelten den Neuen, hielten ihm ein Beitrittsformular unter die Nase. Dann redeten alle auf ihn ein, er wäre ja noch gar nicht dabei, alle sind dabei, das gehöre zur Ausbildung, da muss man dabei sein……. Fast alle unterschrieben. Was eine Gewerkschaft überhaupt ist und tut, wurde mit keinem Wort erklärt. Klar, dass diese Leute bei nächstbester Gelegenheit wieder austraten, meist mit der Aufnahme einer Arbeit als Junggeselle. Als ich Vorsitzender der Jugendvertretung wurde, starb dieses System in der Ausbildung. Als ich Sprecher der Vertrauensleute war, Jahre später, starb es im ganzen Betrieb.
5) In der kleinen Gemeinde Wackersdorf, unweit der Großen Kreisstadt Schwandorf, wurde in den 1980er Jahren die Wiederaufbereitungsanlage für abgebrannte Kernbrennstoffe gebaut (WAA). Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen darum waren die heftigsten und langanhaltendsten in Bayern. Einfach mal im Netz suchen.
Mittlerweile hat sich alles wieder beruhigt und normalisiert, d.h. alle wählen jetzt wieder schwarz.
6) Viele Treffen der Gewerkschaftsjugend waren damals über’s ganze Wochenende. Praktisch, brauchte man nicht an den Führerschein denken. Es sei denn, der Restalkohol am Sonntag ist noch bedenklich. Allerdings achteten die Älteren in der Gewerkschaftsjugend auf die Jüngeren und mit einigen Gesprächen und Übungen ging mein Alkoholkonsum dauerhaft auf ein beherrschbares Level zurück. Selbst bei der Bundeswehr kam nie das Verlangen auf, den ganzen Mist in Alkohol zu ertränken.
7) Ich hatte zwar eine Vorbenachrichtigung für April 1987, wurde aber wg. „nicht geplanter Ausfälle“ schon im Januar eingezogen. Wegen der Vorbenachrichtigung war dieses Vorgehen rechtens.
Als Jugendvertreter wurden wir zu zweit unbefristet übernommen. Mein Kollege wurde von der Bundeswehr irgendwie vergessen, ohne sein Zutun. Von daher hatte ich einen guten Überblick, was mich die 15 Monate Barras gekostet hatten: netto 35.000 DM Lohnausfall. Dürften in heutigem Geld ca. 50.000 € sein.
8) Es war die Zeit des Nato-Doppelbeschlusses, Menschenkette Ulm-Stuttgart. Die wirtschaftlichen Verflechtungen der KZ’s wurden erforscht. Die Losung „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“ gehörte so selbstverständlich zur ÖTV-Jugend wie die 35-Stunden-Woche. Eine bunte Zeit, in der man viel lernen konnte.
9) Die sandinistische Befreiungsfront Nicaraguas stürzte 1979 die von den USA unterstützte Somoza-Diktatur und war 10 Jahre lang der Liebling der europäischen Linken. Tausende Freiwilligenbrigaden reisten nach Nicaragua, um beim Aufbau einer sozialistischen Alternative mitzuhelfen. Die Unterstützung wuchs stärker, als die USA einen weiteren Bürgerkrieg anzettelten. Dabei wurde (gerne) übersehen, dass die FSLN-Revolutionsregierung sich mehr und mehr zum autokratischen Zirkel wandelte, mit Vetternwirtschaft und Handaufhalten.
Ich lernte in der Nicaragua-Solidarität vor allem, dass man mit Waffengewalt vielleicht einen Regimewechsel erzwingen kann, dass aber grundlegende Probleme deswegen trotzdem bleiben.
10) Das erzreaktionäre Bistumsblatt war Pflichtlektüre in jedem katholischen Haushalt. Der Chefredakteur zitierte in einem Artikel Karl Marx‘ Aussagen zu Russland („rückständig, unzivilisiert“ etc.) unter der Überschrift „Marx wetterte gegen die Sowjetunion.“ Bei der Gründung der Sowjetunion war Marx schon 34 Jahre tot. Mein diesbezüglicher Leserbrief war wohl der erste abgedruckte Widerspruch gegen den allmächtigen Chefredakteur. Und für Wochen das Gesprächsthema der brav-katholischen Betschwestern in unserer Pfarrei.
11) Tja, diese jugendliche Selbstüberschätzung: Gar nichts hatte ich bis dahin auszustehen. Und das Gewöhnen an den militärischen Trott geht schleichend. Ich hätte zwar nach der Grundausbildung beantragen können, nicht in der Kaserne schlafen zu müssen (Heimschläfer), weil das Heimatdorf keine 25 km entfernt lag. Dann hätte ich aber am Hof arbeiten müssen. In der Kaserne dagegen hatte ich um 16.00 Uhr Feierabend…
12) Was heißt schon, es geht recht gut um? Die Bemerkung des Stuffz zu Reinigungsdiensten, Formalausbildung, Zusatzübung etc. lässt dich viel schlucken, wo du zum Meister sagen würdest: Such dir dafür einen Dümmeren. Besonders, wenn so ein Zusatzdienst am Samstag angesetzt wird. Für die Franken hätte es bedeutet, dass sie an diesem Wochenende nicht nach Hause fahren hätten können. Andererseits waren die Unteroffiziere / Feldwebel darauf angewiesen, dass wir mitspielten. Denn wenn wir was (absichtlich) verbockten, bekamen sie keine Beförderungspunkte. Im Kasernenalltag hielt sich ein gewisses Gleichgewicht.
13) Nach 5 Monaten Kaserne gab es 6 Wochen Kompanieurlaub. Die erste Fahrradreise. Eine kuriose Hochzeitsfeier. Ein Jugendvertreterseminar in Berlin. Die Zeit reicht, um sich von viel Unfug zu entwöhnen. Zurück in der Kaserne braucht es seine Zeit, um wieder in den Trott zu kommen. Meine Reaktion war der Heimschläfer. Das hieß zwar wieder am Hof mitarbeiten, aber besser als den Unfug auch am Abend mitzumachen. Doch der Kasernentrott war nicht mehr so einfach auszuhalten. Wir hatten ja jetzt auch schon Einblick ins Übungsgeschehen, wussten, wann der Uffz einen Fehler gemacht hatte, wenn er sich nicht auskannte, wenn er unsere besseren Ideen ignorierte, weil er mehr Lametta auf den Schultern hatte. Und wir waren in unserm Zug ja allesamt Facharbeiter, die schon im Beruf standen und da was konnten.
14) Du kannst lange drüber wegschauen, vieles relativieren oder ignorieren. Aber es kommt der Punkt, da sagst Du Dir: ich ordne doch nicht meine Zukunftspläne einem Zwangsdienst unter. Gut, wer sich mit wem beraten kann. Aber meine Freunde kannten den Zwangsdienst nicht. Den anderen Wehrpflichtigen konnte ich mich nicht anvertrauen. Die Konsequenzen waren abschätzbar. Also los.
Das Wachvergehen war nach meiner Erinnerung Ende Oktober. Im November stand ein Truppenübungsplatzaufenthalt an. So fand mein Verhör wg. des Wachdienstes erst Anfang Dezember statt. Aber es stand eine weitere Panzerübung an und darauf war Weihnachtsurlaub. Meine Disziplinarstrafe von 7 Tagen verschärfter (ich durfte keinen Besuch empfangen) Ausgangssperre trat ich dann am Abend des 6. Januars an mit einer 8stündigen Schafkopfrunde mit dem UvD. In der Woche übernahm ich unentgeltlich so viele Wach- und GvD-Dienste wie nur möglich und bescherte so drei Franken ein freies Wochenende. Als der Gefreite des Spießes mich mal im Mannschaftsheim niedermachen wollte (Kameradenschwein, Drückeberger und so) brach über ihn ein gewaltiger Shitstorm aller anwesenden Franken über ihn herein. Während ich in den höchsten Tönen als feiner Kamerad gelobt wurde. Ich wurde nie mehr wg. meines Fernbleibens kritisiert.
15) Ein zweites Diszi fing ich mir nicht mehr ein. Eine schriftliche Strafarbeit (4DIN-A 4-Seiten) über Befehl und Gehorsam, eine weitere über die Vorteile des Truppenausweises und noch irgendwas. Noch mal drei Wochen Urlaub wegen Sonderdiensten (Ausscheiderurlaub) und ich war raus aus dem Narrenverein.
16) Das Ausscheiden aus der Bundeswehr war ein gewohntes Ritual in Kasernenstädten. Ein weißer Pullover mit den Unterschriften aller Wehrpflichtigen. Ein dekorierter Strohhut, auf dem die Federn Auskunft gaben: Pfauenfedern für Truppenübungsplatz, weiße für länger Krankgeschrieben, blaue für Disziplinarverfahren. Und von Donnerstag Dienstschluss bis Freitag Dienstantritt: schreien, grölen, saufen quer durch die ganze Garnisonsstadt. 4 Tage nach meinem Ausscheiden war Ostermarsch in Nürnberg, an dem ich bewusst (und nüchtern) mit meinem Ausscheideroutfit teilnahm. Vom Barras gab es für Wehrpflichtige ein „Entlassgeld“, ca. 1000 DM. Umgangssprachlich Ausscheidergeld genannt.
17) Wer im Trott mit drin ist, merkt ja nicht die vielen kleinen, fast unmerklichen Veränderungen im Verhalten. Aber Freunden, die einen während der Militärzeit nur mehr alle ein, zwei Wochen trafen, fällt das natürlich in der Summe auf. Es hat sie gestört, aber sie haben geschwiegen und mich die 15 Monate lang begleitet. Aber alle waren sie heilfroh, als nach und nach alles Militärische von mir verschwand.
18) Von jeder Kompanie mussten ein paar Leute in die „Mobile Reserve“, die immer wieder zu Wehrübungen einberufen wurden. Bei uns passte die geforderte Anzahl genau zu der der Disziplinarstrafen.
19) uk = unabkömmlich. Der Betrieb konnte bei der Bundewehr einen Antrag stellen, dass der Beschäftigte für eine Wehrübung unabkömmlich wäre und darum davon beurlaubt werden sollte. Der Reservist konnte keinen solchen Antrag stellen.
20) Rückblickend eigentlich verwunderlich, wie wenig Gedanken ich mir über die „Selbstverstümmelung“ (amtlicher Bundeswehrausdruck) gemacht hatte. Zur Bundewehr gehe ich keinesfalls mehr, umbringen tu ich mich wg. dem Narrenverein bestimmt nicht. Die Verletzung musste schwer genug sein, um nicht anzutreten, andernfalls aber in ca. einer Woche ausgeheilt sein. Nach einem gründlichen Studium aller Anatomiebücher der Stadtbücherei war die Stelle im Unterarm gefunden, die dies perfekt erfüllte. Und es lief genau wie geplant.
21) Das Gedächtnis ist bekanntlich ein guter Filter: Schlechtes vergisst man oder biegt es sich positiv zurecht. Das positive erhält man und schmückt es aus. Das Tagebuch war eigentlich ein Kalender, in dem wir in der Arbeit erschwernisberechtigte Arbeiten notierten. Ich hatte davor nicht Tagebuch geschrieben und auch danach nie wieder. Seltsamer Zufall, dass ich es ausgerechnet beim Militär gemacht hatte und es mir danach die Augen öffnete. Jener Kalender existiert nach wie vor, liegt bei allen andern Arbeitskalendern. Ich habe ihn seit meiner Verweigerung nie mehr durchgelesen.
22) Die erneute Einberufung zur Mobilen Reserve zwang mich, Nägel mit Köpfen zu machen. Konnte mich ja nicht jedes Mal mit dem Messer stechen (tut übrigens tatsächlich richtig weh). KDV war in der damaligen Gewerkschaft gang und gäbe, aus diesem Kreis kannte ich auch einige KDV-Berater. Längst beriet ich ja auch Auszubildende zum Thema KDV, bei denen alles über das schriftliche Verfahren ablief. Ich selbst als Reservist musste aber zur mündlichen Verhandlung. Und da lief es ab wie in den 70ern, wie es F. J. Degenhardt so treffend besungen hat.
23) Die Begründung war natürlich länger, beinhaltete alle relevanten Punkte, aber das war meine individuelle Note.
24) An der Anerkennung zweifelte ich nie. Hermann war ein guter, langjähriger KDV-Berater, wir hatten ein halbes Jahr lang geübt. Und wenn schon, wären halt die anderen Instanzen noch gewesen. Die Gewerkschaft gibt Rechtschutz bei KDV. Und hätten sie mich mit aller Gewalt noch mal in die Armee reinpressen wollen, auch da kannte ich meine Auswege. Ein Einspruch gegen die Anerkennung folgte der Idee, die Barrashengste zu tratzen, ihnen überflüssige Arbeit zu beschaffen. Aber das Leben hatte mich wieder, es gab so viel Sinnvolles zu tun. Warum da noch viele Gedanken an eine große Dummheit meines Lebens verschwenden?
25) In dem erwähnten 6wöchigen Kompanieurlaub bin ich erstmals mit dem Fahrrad durch Süddeutschland geradelt. Ohne Gangschaltung, die Ausrüstung größtenteils unerlaubt von der Armee ausgeliehen. Etwas über 2 Wochen. Auf körperliche Fitness hatten sie uns ja getrimmt. Aber das Alleinesein, das Abschütteln von jedem Trott – heute machen das Büromenschen nach der Arbeit und nennen es Workout.
Auch in den Folgejahren habe ich Radreisen gemacht, die längste 11 Wochen. Diese Radreisen haben mich stärker geprägt als alles Bisherige und viel von meinem Engagement ist nicht zu verstehen, wenn man von diesen Reisen nichts weiß. Aber das ist eine andere Geschichte, vor allem: eine lange Geschichte.
Letztlich, wie der Volksmund so schön sagt: „Arbeit und Frauen sind der Untergang der radelnden Klasse.“ entschied ich mich, sesshaft zu werden und die Welt von zu Hause aus zu retten.
(28. März 2021)
Willi Rester
- geb. 1967
- 1.1.1987 – 31.3.1988 Ladeschütze auf Kampfpanzer Leo 1 - 2/PzBtl. 114 Neunburg v. Wald
- Als KDV anerkannt im Juli 1991