Jürgen Dornis (geb. 1950): „Ohne Ehrfurcht vor dem Leben hat die Menschheit keine Zukunft.“ (Albert Schweitzer)

Von Jürgen Dornis


Ich hatte eine behütete Kindheit, in der ich Liebe zur Mitwelt erfahren und entwickeln konnte. Mit etwa 13 Jahren hat mich ein Film über Albert Schweitzer und Lambarene tief beeindruckt. Umso mehr schockierten mich wenig später die Schreckensbilder aus Vietnam. So also sieht Krieg aus. Napalm. Agent Orange. Warum überfällt ein reiches, hoch gerüstetes Land des „freien Westens“ ein Entwicklungsland? Auf welcher Seite steht unsere Regierung? Und ich?

Die Entscheidung für KDV fiel mir nicht schwer. Mein Religionslehrer hatte in Karlsruhe eine der ersten Arbeitsgruppen des Kinderhilfswerks terre des hommes gegründet, und ich war von Anfang an dabei. Wir holten Napalm-Opfer aus Vietnam heraus. (Naja, wir sammelten Geld und ermöglichten so ihre Behandlung in Deutschland.) Auch bei Amnesty International machte ich mit. Wir betreuten einen Gewissenshäftling in Südafrika und mussten das Verbrechen der Apartheit hautnah miterleben – aber viele deutsche Firmen und Politiker standen auf der anderen Seite…

Mit 16 war ich das erste Mal beim Ostermarsch dabei: So viele neue Infos, Gruppen, Kampagnen. Wir können – und müssen - etwas tun! Ich schrieb meine ersten Beiträge für die Schülerzeitung.

Von da an war mir klar, dass ich den Kriegsdienst verweigern würde. Ich wollte nicht vom Schaden leben, den ich anderen zufüge, sondern vom Nutzen. Aber es sollte noch 8 Jahre dauern, bis ich wirklich verweigern konnte. Kurz vor dem Abi kam die Musterung, deren Ergebnis mich hoch erfreute: „Voll tauglich für alle Waffengattungen“ - Aber nicht mit mir! Bei der Musterung hatte ich schon zu Protokoll gegeben, dass ich verweigern werde. So einfach war das freilich nicht, denn ich hatte mich für ein Theologiestudium entschlossen. Und wer sich auf ein geistliches Amt vorbereitet, wird vom Wehrdienst zurückgestellt. Auf Antrag.

Meine Gewissensfrage war: Stelle ich den Antrag – dann kann ich nicht verweigern. Stelle ich keinen Antrag, unterliege ich der Wehrpflicht, kann also verweigern, muss aber vermutlich sofort Ersatzdienst leisten. Ich wollte aber Entwicklungsdienst als Zivildienst leisten und das geht erst nach 2-jähriger Berufserfahrung – davon war ich noch weit entfernt. Und so stellte ich den Antrag auf Zurückstellung und erklärte gleichzeitig, den Kriegsdienst verweigern zu wollen. Dem Antrag auf Zurückstellung wurde entsprochen – und ich wurde darüber belehrt, dass damit eine Verweigerung nicht möglich ist. Leider liegt mir diese Korrespondenz nicht mehr vor.

Mit diesem Status musste ich also einige Jahre leben – bis ich mich zum Abbruch meines Theologiestudiums entschlossen hatte. Mittlerweile war ich 24 Jahre alt und um einige Erfahrungen reicher: In Karlsruhe hatte ich mit meiner späteren Frau und einigen Freunden den ersten deutschen Hungermarsch organisiert, ein Jahr später bei der Planung der deutschlandweiten Friedensmärsche mitgewirkt. Wir hatten am 2. Welternährungskongress in Den Haag teilgenommen und ich war vom damaligen Bundespräsidenten Heinemann als „Vertreter der kritischen Jugend“ (oder so ähnlich) ins „Deutsche Forum für Entwicklungspolitik“ berufen worden – aus dem ich jedoch schon bald unter Protest wieder austrat. Zwar hatte ich „Deutsche Bank“er und Bischöfe kennengelernt, Gräfin Dönhoff und Günther Grass die Hand geschüttelt – aber für Frieden und gerechte Entwicklung konnte und/oder wollte dieses Gremium nichts tun. Auf einer 9-monatigen Studienreise durch Asien und Ostafrika haben meine Frau und ich Nyereres „Afrikanischen Sozialismus“ in Tansania kennengelernt und auch den späteren Präsidenten Mosambiks Joaquim Chissano (damals „Chefideologe“ der Befreiungsbewegung FRELIMO) interviewt. Ich hatte mittlerweile einige Dutzend Artikel veröffentlicht, mich aber dennoch für den familienfreundlicheren Lehrerberuf entschieden und stand kurz vor Abschluss eines parallel zur Theologie begonnenen Lehramtsstudiums.

Jetzt also endlich KDV. Auf die leichte Schulter habe ich das nicht genommen: 8 Seiten Lebenslauf und 11 Seiten Begründung. Beides kann der geneigte Leser in den pdf-Dateien unten nachlesen.

Ich habe sehr ehrlich argumentiert und versucht, meine Gewissensentscheidung glaubhaft zu belegen. Sehr deutlich habe ich aber auch „die Rüstungsproduktion, die sich am Prinzip der Profitmaximierung orientiert“, „völkerrechtswidrige Kolonialkriege“ von NATO-Partnern, unsere Klassengesellschaft und die Notstandsgesetze kritisiert. Ich habe mich auf so unterschiedliche Akteure wie Erzbischof Dom Helder Camara und den Staats- und Parteichef der Sowjetunion, Leonid Breschnew, berufen. Militärische Befehlshierarchie und die damaligen Berufsverbote im Zuge des „Radikalenerlasses“ habe ich als „Ausdruck fortschreitender Entrechtung und Fremdbestimmung des Einzelnen, Ausdruck einer forcierten Entdemokratisierung der Gesellschaft“ gebrandmarkt. Referenzen hatte ich erbracht von meinem ehemaligen Relilehrer – und meinem Vater. Auch wenn ich meine Herkunftsfamilie oft als bevormundend und engstirnig erlebt hatte, im Diktum „Nie wieder Krieg und Faschismus“ stand ich doch ganz und gar in der Familientradition.

Die Verhandlung ließ nicht lange auf sich warten, meine Frau und ein langjähriger Freund als Beistand begleiteten mich vor den „Ausschuss“. Ich war mir wohl bewusst, dass ich ein privilegierter Gewissensprüfling war: großer Rückhalt in meinem persönlichen und familiären Umfeld, gute Bildung und sprachliches Ausdrucksvermögen und (auch aufgrund meines höheren Alters) eine Welt- und Lebenserfahrung, über die andere Prüflinge i.d.R. noch nicht verfügten. Aber entsprechend hoch war auch der Erfolgsdruck.

Als Lokalhonoratioren ein Regierungsdirektor und ein (Schul-?)Rektor, beide a.D., dazu ein Werkmeister i.R. und eine Hausfrau (die Berufe erfuhr ich erst aus dem Protokoll): Sie sollten nun mein Gewissen prüfen. Ich war auf die üblichen Fragen gefasst und fühlte mich bestens „gerüstet“.

Sofort frontal angegriffen hat mich einer der Beisitzer, der sich als sehr evangelischer Christ zu erkennen gab (mutmaßlicher „Pietcong“): Mein Theologiestudium sei ja nur vorgeschoben gewesen, damit ich nicht eingezogen werde, paralleles Studium Theologie und Lehramt sei unmöglich, meine ganze Argumentation ebenso unglaubwürdig wie die gesamte politische Theologie. Ich fühlte mich an Degenhardts Ballade vom Krypto-Kommunisten erinnert („Dann hört er sich die Platte mit der H-Moll Messe an, weil er nicht einmal privat mehr völlig unverstellt sein kann“). Weil ich neben meinem gesellschaftlichen Engagement auch noch - völlig legal - versucht hatte, 2 Studiengänge parallel zu studieren und dabei am Ende „gescheitert“ war, sollte ich flugs zum Betrüger erklärt werden. Die übrigen Ausschuss-Mitglieder kamen kaum zu Wort, so verbissen setzte mein lieber Bruder im Glauben seine Angriffe fort. Hatte er tatsächlich das Ziel, mich persönlich als unglaubwürdig erscheinen zu lassen oder fühlte er einfach sich selbst und seine Religiosität durch mein Anderssein angegriffen? Unsere wackeren Wortgefechte zur Friedfertigkeit Jesu, Christentum und Antikommunismus stießen bei den übrigen Teilnehmern auf zunehmende Langeweile – und nach gefühlten 30 Minuten unterbrach der Vorsitzende die Sitzung. Der Ausschuss zog sich zur Beratung zurück; in der nächsten halben Stunde wäre ich gerne Mäuschen gewesen.

Nach dieser Pause führte jedenfalls der Vorsitzende die Verhandlung und von meinem bisherigen Widersacher war kein einziges Wort mehr zu hören. Ich erinnere mich an viele kritische Fragen, konnte aber auch eine gewisse Wertschätzung erahnen. „Sicher würden Sie im Falle einer Ablehnung den Rechtsweg voll ausschöpfen und lieber ins Gefängnis gehen als zur Bundeswehr?“: Da hatte mich jemand verstanden. Die Anerkennung hatte ich erwartet – nicht jedoch die etwas spöttische Anmerkung zu meiner ausführlichen schriftlichen Begründung: Ich würde ja mit Kanonen auf Spatzen schießen. Nein, bis heute empfinde ich die Machtverhältnisse ganz anders.

Trotz Kapitalismuskritik hatte ich die Gewissensprüfung bestanden, ich war anerkannter Kriegsdienstverweigerer. Und noch heute ist das ein wichtiger Teil meiner Identität. Einen Zivildienst musste ich nicht leisten, statt dessen habe ich meinen Part beim Windeln und Erziehen unserer 5 Kinder übernommen. Keines unserer Kinder war beim Bund, aber da genügte schon die „Postkarten-Verweigerung“- 2 Söhne haben in sozialen Einrichtungen ihren Zivildienst geleistet.

Kein Jugendoffizier hat je seine Stiefel in meinen Gemeinschaftskunde-Unterricht gesetzt. Aber Friedens- und Antikriegslyrik hatte ihren festen Platz im Deutschunterricht. Für meinen Geschichtsunterricht fand ich stets aktuelle Belege für das Scheitern militärischer Konfliktlösungen. Wie viele Millionen Männer, Frauen und Kinder wurden seither ermordet? Wie viele sind verhungert in einer Welt der Überproduktion, des Überflusses und der Überrüstung? Auch „ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet“ (Jean Ziegler).
Und dieser
„Tod zwingt uns zur Bilanz. Seine einzige Überwindung ist die Überzeugung, dass wir am Ende sagen können: Ich habe mit anderen zusammen wenigstens so viel verändert, dass mehr Sinn in diese Welt gekommen ist, mehr Brüderlichkeit und mehr Liebe. Nur das kann der Sinn des Lebens sein. Deshalb müssen wir handeln.“

Mit 4 Kindern standen wir am Zaun in Mutlangen, als Ziegler diese Sätze geschrieben hat. Unser 5. Kind wurde dann in Papua Neuguinea geboren, das schwäbische Eigenheim war vermietet, ich war „Entwicklungshelfer“ bei „Brot für die Welt“ und bildete Lehrer aus in einem der ärmsten Länder der Erde. Sie lernten Ackerbau und Viehzucht, Dorftechnik, Projektmanagement und „christliche Erziehung“, wir lernten Pidgin und eine neue Weltsicht. Wir kamen mit 4 Kindern zurück; der Fortschritt hat auch von uns seinen Tribut geholt, bei einem Autounfall starb unsere jüngste Tochter im Alter von 8 Jahren. Ich überlebte den Unfall mit 3 weiteren Kindern.

Erst nach meiner Pensionierung haben wir einen weiteren Entwicklungsdienst geleistet: Meine Frau als Friedens- und Umweltpsychologin und ich als päd. Berater an einer Pädagogischen Hochschule in Sumba/Indonesien. In den 60er Jahren hatte das Land ganze Arbeit geleistet bei der Ausrottung der Kommunisten: Über eine Million Ermordete, der CIA lieferte die Listen und auch die BRD war mit von der Partie.

Aufklärung, kritisches Denken, gewaltfreie Konflikttransformation, Bewahrung der Schöpfung und Ehrfurcht vor dem Leben – das beschäftigt uns auch nach unserer Rückkehr in die badische Heimat, wo wir wie in Papua und Sumba unter einem Himmel voller Sterne wohnen.

Wir machen mit bei www.sicherheitneudenken.de, www.friedensregion-bodensee.de und vielen anderen zivilgesellschaftlichen Initiativen. Bald wird unser 9. Enkelkind geboren, Simeon ist bei Fridays for future dabei, Elisa spendet ihr Taschengeld für Kinder im Jemen, Joah will einen Gnadenhof für Tiere einrichten…

a luta continua hätte ich früher geschrieben oder we shall overcome oder venceremos,
heute sag ich einfach danke.

(24. März 2021)


Schriftlicher KDV-Antrag von Jürgen Dornis vom 22. Mai 1975 zum Herunterladen: 

Jürgen Dornis

  • Geboren 1950 in Karlsruhe
  • Abitur 1969
  • 1969-74 Studium Evang. Theologie in Heidelberg und Tübingen
  • 1972-76 Lehramtsstudium PH Reutlingen 
  • 1975 Kriegsdienstverweigerung
  • 1976-2014 Realschullehrer für Deutsch, Geschichte, Gemeinschaftskunde, Ethik/ev. Religion
  • 1988-1991 Entwicklungsdienst in Papua Neuguinea: Lehrerausbildung und ländliche Entwicklung
  • 2014-2018 Entwicklungsdienst in Sumba/Indonesien: Lehrerausbildung und Curriculumentwicklung
  • Journalistische Arbeiten, Schulbuch-Mitarbeit, Erwachsenenbildung
  • Gesellschaftliches Engagement für Frieden und Eine Welt
  • Verheiratet seit 1971, 5 Kinder und 9 Enkel.