Gert Mathiesen (geb. 1938): Als Kriegsdienstverweigerung noch viel Mut erforderte

Von Gert Mathiesen

Es war im Dezember 1958, als mir eine Mitteilung zugestellt wurde, dass ich als Wehrpflichtiger erfasst worden sei. Ich wurde gemustert und erhielt einen Wehrpass. Zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, der uns allen noch in den Knochen saß, wurde 1955 die Bundeswehr gegründet. 1956 wurde das Gesetz zur allgemeinen Wehrpflicht verabschiedet, nach dem jeder Bürger über 18 Jahre der Wehrpflicht unterliege.

Ich hatte gerade meine Lehrzeit als kaufmännischer Angestellter in dem weltweit vertretenen Unternehmen Agfa-Photo beendet und überlegte, welche berufliche Laufbahn ich weiterhin einschlagen wolle. Im Büro wollte ich nicht bleiben. Mir lag die Arbeit im direkten Kontakt mit Menschen mehr. Meine Großmutter und meine Mutter waren fest im christlichen Glauben verankert. Ihr Glaube an eine höhere Macht, die einen in keiner Situation verlässt, hatte ihnen geholfen, den Krieg mit zweimaliger Flucht, Hunger und Bombardierungen zu überstehen, ohne zu verzweifeln. Als Jugendlicher faszinierte mich das Leben Jesu, seine Souveränität, seine Liebe zu den Menschen, sein Mut und seine konsequente Haltung gegenüber der Obrigkeit. Jesus stand unverrückbar zu seiner Überzeugung, bis in den Tod.

Daraus erwuchs mein Entschluss, den erlernten Beruf aufzugeben, Diakon zu werden und mich in den Dienst für Menschen zu stellen. In diese Lebensphase platzte nun der Befehl, Soldat zu werden. Das brachte mich in schwere Gewissenskonflikte. Für mich war klar, dass die  Aufforderung Jesu „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ und „wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, halte ihm auch die linke hin“ unvereinbar damit war, auf andere Menschen zu schießen.

Meine Lebenshaltung war noch nicht gefestigt. Ich war ein sensibler Junge und hatte mich mit der Situation, als Soldat kämpfen zu müssen, noch nicht auseinandergesetzt. Meine Hoffnung war, von meiner Mutter, die doch fast täglich in der Bibel las, Unterstützung zu erhalten. Als 20-jähriger verfolgte ich die Diskussion in der Presse über die vor zwei Jahren beschlossene Wehrpflicht. Mir war die Aussage des damaligen Finanzministers Franz Josef Strauß gegenwärtig, der nach dem Krieg, an dem er als Soldat teilgenommen hatte, geäußert hatte, er würde nie wieder ein Gewehr anfassen. Völlig konträr dazu vertrat er jetzt die Ansicht, dass Deutschland seine bedeutende Stellung in Europa zurückgewinnen müsse und auch in den Besitz von Atomwaffen gelangen solle. Ich konnte mir noch keine feste Meinung bilden. Nach den unvorstellbaren Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges und den Millionen Menschen, die dabei ums Leben kamen, nach der Flucht als 6-jähriger Junge und selbst erlebtem Tieffliegerbeschuss verstand ich diese Wende in der politischen Meinung nicht. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass nach all dem Grauen nach wenigen Jahren wieder aufgerüstet werden sollte. In den Zeiten des Kalten Krieges war von der Notwendigkeit von Verteidigung die Rede. Die beiden Systeme des Kapitalismus und des Kommunismus prallten aufeinander. Die Gefahr eines erneuten bewaffneten Konfliktes war greifbar nahe.

Umso mehr war ich hin- und hergerissen und von dem abhängig, was ich in meinem unmittelbaren Umfeld hörte. Mein Onkel, der den Krieg als Soldat miterlebt hatte, schaute verächtlich auf mein Vorhaben, den Wehrdienst zu verweigern. Er gab mir zu verstehen, dass ich wohl im Falle eines Angriffs der Russen unser Volk im Stich lassen wolle. Und ob ich meine geliebte Oma, die bei uns lebte, nicht verteidigen würde, wenn sie in Lebensgefahr geraten würde. Meine Mutter übernahm schließlich die Meinung meines Onkels und ich hatte mit mir allein zu kämpfen. Es bedrängte mich sehr, als Feigling dazustehen, der nicht bereit war, seine liebsten Menschen auf der Welt zu verteidigen.

Als Lösung sah ich schließlich den Kompromiss, den Wehrdienst unter der Bedingung anzutreten, im Sanitätsdienst eingesetzt zu werden. Im Kriegsfall verwundeten Soldaten zu helfen, konnte ich mir durchaus vorstellen.

Ich wurde also eingezogen und in die Handhabung eines Gewehres eingewiesen. Schon bald wurden auf dem Kasernenhof Pappkameraden als Zielscheiben aufgestellt. Bei einer dieser Übungen erlebte ich, wie ein junger Rekrut sich weigerte, auf diese Menschen-Attrappen zu zielen. Ich bekam von ferne mit, wie er sichtlich eingeschüchtert mit dem Gruppenführer diskutierte und schließlich vom Hauptmann abgeholt wurde. Ich machte mir Gedanken, ob er wohl jetzt im Gefängnis landen würde. Im weiteren Verlauf der Grundausbildung wurden wir des öfteren frühmorgens mit schrillen Pfiffen aus dem Schlaf gescheucht, mit dem Ruf „Alarm, die Russen kommen“! Besonders laut tat sich dabei der Hauptfeldwebel hervor, ein Altgedienter aus dem letzten Krieg. Wir wussten nie so recht, ob das nun der Ernstfall war oder nur eine Übung. Die Vorstellung eines eventuellen Ernstfalles im Nacken mussten wir alles, was wir im Krieg brauchen würden, in einen großen Bundeswehrsack stopfen, der dazu viel zu klein war. In großer Hetze mussten wir auf dem Hof antreten. Ich weiß noch, wie sehr mich der Gedanke beschäftigte, für den Ernstfall ziemlich ungenügend ausgerüstet zu sein. Andere Kameraden nahmen diese Übungen auf die leichte Schulter. Sie ließen einfach einiges im Spind zurück, um rechtzeitig antreten zu können. Nach Übungen im Gelände, sprich Wälzen durch Matsch, erfolgte der Befehl, nach wenigen Minuten in sauberer Kleidung auf dem Hof zu erscheinen. Da dies völlig unmöglich war, stellten sich einige im Kampfanzug unter die Dusche. Wie man sich denken kann, entsprach ihr Aufzug danach trotzdem nicht den Vorschriften. Kampfstiefel konnten noch so sauber sein, der Gruppenführer fand immer noch einen winzigen Schmutzpartikel, der mit einem spitzen Streichholz zu entfernen war. Eine Geländeübung bestand zum Teil darin, sich ein oder zwei Stunden an den Waldrand zu legen und danach wieder zurück zu marschieren. Mir kam oft der Gedanke, dass eine kleine Gruppe Waldläufer wohl einer ganzen Kompanie so sinnlos gedrillter Soldaten haushoch überlegen sein würde.

Ich tröstete mich damit, dass ich mich ja zum Sanitätsdienst gemeldet hatte. Nach einem Vierteljahr am Ende der Grundausbildung ging ich zum Kompaniefeldwebel, um auf mein Gesuch zurückzukommen. Der Feldwebel schaute mich erstaunt an und meinte schließlich, dass kein Gesuch vorliege. Ich solle zunächst zusammen mit den anderen den normalen Wehrdienst beginnen und dann weitersehen. Es blieb mir schließlich nichts anderes übrig. Meine Aufgabe bestand zukünftig im Wesentlichen darin, morgens beim Antreten die Anwesenheitsliste auszufüllen und die übrige Zeit des Tages in der Schreibstube herumzusitzen. Das verstieß nicht gegen mein Gewissen. Die Schreibmaschine, die mir in der Kaserne zur Verfügung stand, nutzte ich dazu, um mir während der Dienstzeit in einem Selbstfindungsprozess Gedanken über meine Lebensaufgabe und meinen weiteren beruflichen Weg zu machen.

Die seltenen, oft schikanösen Übungen im Feld steckte ich weg, und manches im soldatischen Alltag unserer Panzer-Instandsetzungskompanie hatte durchaus humorvollen Charakter. Wenn nichts zu tun war, legten sich in der Werkstatt tätige Soldaten unter einen Panzer, wo sie nicht gesehen wurden und ließen es sich gut gehen. Manchmal gab es auch etwas zum Lachen. So zum Beispiel, als bei einer Übung in einem kleinen Dorf abends in der Wirtschaft zusammen mit den Vorgesetzten gezecht wurde. Anschließend wurde der Werkstattleiter etwas zu mutig, setzte sich in einen Panzer und fuhr los. Am Morgen waren einige Zäune umgefahren. Mit seinen Fähigkeiten als Panzerfahrer war es wohl doch nicht so weit her.

Auf einen Bescheid zu meinem Gesuch auf Sanitätsausbildung wartete ich weiterhin vergeblich. Nach meiner Entlassung aus dem Wehrdienst, der damals nur ein Jahr dauerte, verfolgte mich weiterhin der Gedanke, im Falle eines Krieges als Reservist eingezogen zu werden. Um dem vorzubeugen, reichte ich nach abgeschlossener Wehrdienstzeit meine Verweigerung ein. Ich war nach wie vor entschlossen, Diakon zu werden. Um als Kriegsdienstverweigerer anerkannt zu werden, musste man seine Gewissensgründe wie bei einer Gerichtsverhandlung vor einem Ausschuss darlegen, der aus einem Vorsitzenden und zwei Beisitzern bestand. Ich kann mich noch gut erinnern, dass einer der beiden Beisitzer ein Metzger mit derbem, grobschlächtigem Aussehen und ebensolchem Benehmen war. Ich kam ins Kreuzverhör, bei dem meine christliche Motivation in Frage gestellt wurde. Wieder kam die Vorhaltung, ob ich wohl meine Familie im Kriegsfall nicht verteidigen würde. Und ich wurde abgelehnt.

Ich nahm mit der damaligen Zentralstelle KDV Kontakt auf, setzte ein Gesuch mit einer ausführlichen Begründung meiner Gewissensgründe auf, in der ich mich unter anderem auf Martin Luther berief und nahm einen Rechtsanwalt, der mich im Verfahren vor der Prüfungskammer unterstützte. Zu meiner Erleichterung kam ich diesmal durch. Die Bedrängnis, in der ich mich in dieser Zeit befand, sowohl im engsten Familienkreis, als auch durch die ständigen Gewissenskonflikte während des Wehrdienstes und der anschließenden Verweigerung, sind aus meinem Leben nicht auszulöschen. Die Angst, die ich als junger Erwachsener gegenüber den staatlichen Institutionen und den Vorgesetzten der Bundeswehr auszustehen hatte, saß mir weiterhin in den Knochen, auch wenn sie nicht mit den furchtbaren Erlebnissen der Soldaten und der Zivilbevölkerung im Krieg vergleichbar waren. Heute wundere ich mich, wie ich diese Zeit damals ganz auf mich allein gestellt durchgestanden habe. 

Mein Ziel, meine bisherige Tätigkeit im Büro gegen einen helfenden Beruf einzutauschen, verwirklichte ich unmittelbar in den Jahren danach. Ich begann ein Sozialpädagogikstudium und arbeitete als Sozialpädagoge bei einer kirchlichen Einrichtung. Als in einer wachsenden Trabantenstadt eingesetzter Sozialpädagoge konnte ich selbst bestimmen, welche Akzente ich setzte. Bei Dienstbesprechungen erhielt ich Einblicke in die Arbeit des betreffenden Pfarramtes, konnte aber deren Inhalt immer weniger Sinn abgewinnen. Ich vermisste völlig den vertrauensvollen persönlichen Bezug der Mitarbeiter untereinander. Es gab in dem neuen Stadtteil noch drei weitere Sozialpädagogen von verschiedenen Anstellungsträgern. Hätten wir nicht in Eigeninitiative einen Arbeitskreis zur Reflektion unserer oft anspruchsvollen Arbeit gebildet, wäre ich vermutlich nach den vielen negativen Vorerfahrungen in eine Depression versunken. Im Rückblick befriedigt es mich neben vielen abenteuerlichen Erfahrungen, dass ich wenigstens zwei Selbstmordversuche im letzten Moment verhindern konnte.  

(29.04.2021)

Gert Mathiesen, Jahrgang 1938

Nach einer kaufmännischen Lehrzeit Wehrdienst von Januar bis Dezember 1960.
Danach Verweigerung. In erster Verhandlung vor einem Prüfungsausschuss für Kriegsdienstverweigerung abgelehnt. Im Berufungsverfahren anerkannt. 
Danach Studium zum Sozialpädagogen.  
Ich schloss mich der örtlichen Friedensgruppe an und nahm an Ostermärschen teil. 
Bis zum Ende meiner beruflichen Laufbahn Einzel- und Gruppenberatung von Menschen mit Multipler Sklerose.